Das Thema der Limes 10/2022 ist die sich momentan neu herausbildende Welt, die ganz anders als die bisherige sein wird (Tutto un altro mondo). In drei Sätzen wird diese neue Welt auf dem Titelblatt der Ausgabe skizziert: „Der Große Krieg versenkt uns Europäer / Polen Superstar / Deutschland-Russland-China, ein Verlierertrio?“
Lucio Caracciolo beginnt sein Editorial mit der Feststellung, dass gestern die Ideologie regierte, heute jedoch die Identität. Dieser Paradigmenwechsel bestimmt nach seiner Ansicht die Geschichte. Die Systemkonfrontation des Kalten Kriegs, die von einem ideologischen Gegensatz geprägt war, musste enden, weil „die Menschheit zu groß und zu vielfältig ist, um sich auf das Ost-West-Schema reduzieren zu lassen“. Wenn aber schon zwei Pole zu wenig sind, um der Komplexität der Welt gerecht zu werden, dann ist es mit Sicherheit auch ein einziger, so Caracciolo. Mit anderen Worten: die unipolare Welt unter der Hegemonie der USA ist in Auflösung – auch, weil sie von keiner überzeugenden Ideologie getragen wird.
An die Stelle der Ideologien sind nur Identitäten getreten. Als letztere versteht Caracciolo die Erzählungen, spezifische geopolitische Geschichte, welche sich die Protagonisten der Weltpolitik zu ihrer Selbstvergewisserung erzählen. Überall in der Welt ist man auf der Suche nach der verloren Identität. Dies gilt im besonderne Maße für die drei wichtigsten Akteure der Weltpolitik: die USA, China und Russland.
Mit Verweis auf das von Peter Sloterdijk wieder in die politische Diskussion zurückgebrachten Thymós-Konzept der alten Griechen zeigt Caracciolo, worum es in der Welt schon immer ging und wieder vermehrt geht: nicht um materielle Güter, sondern um Status: „Es ist die Gier nach Anerkennung, welche die Geschichte vorantreibt.“
So zeigt sich, dass die Weltmächte immer nur dann im Frieden leben können, wenn sie sich gegenseitig eingestehen, Recht zu haben und der Verlierer die gleiche Würde hat, wie der Sieger. Dann fügt Caracciolo mit Blick auf die deutsche Geschichte an: „Es gibt keinen Frieden, wenn der Verlierer gedemütigt wird. Der ganze Unterschied zwischen Wien 1815 und Versailles 1919 – ein Unterschied, für den wir weiterhin die Rechnung bezahlen.“
Wie bei den Religionskriegen kämpft man auch bei den Identitätskriegen um Anerkennung, nicht nur um ein Stück Land. Im gegenwärtigen Weltkonflikt zeigt sich dies mit aller Deutlichkeit. Russland ist in die Ukraine eingefallen, weil es sich von den USA bescheinigen lassen will, dass es immer noch eine Großmacht ist. China will bis zum hundertsten Jahrestag von Maos Staatsgründung zur ersten Macht der Welt werden, um die Demütigung der Opiumkriege zu heilen. Und die USA wollen weiterhin die führende und einzige Weltmacht bleiben, die sie durch den Zweiten Weltkrieg und den Zusammenbruch der Sowjetunion geworden sind. Alle drei Mächte sind Ausnahmemächte und alle drei sind sich unsicher über ihren eigenen Status, so Caracciolo. Sie suchen einen Weg, um die Anerkennung für ihre jeweilige Identität zu finden.
Europa hingegen hat seine „Identitätskleider abgelegt“ und sich vollständig den USA unterworfen, was nach Caracciolos Ansicht nur Verachtung verdient. Er erinnert an Francis Fukuyamas zu Unrecht verlachtes Buch über das Ende der Geschichte, welche im Original den Titel „The End of History and the Last Man“ trägt. Darin bescheinigt dieser, anknüpfend an Friedrich Nietzsche der Europäischen Union, die die wahre Heimat der „letzen Menschen“ zu sein. Das Ende der Geschichte ist der europäische Traum, der nach Fukuyamas vor allem in Deutschland zu spüren ist. Er äußert sich in der Überwindung der nationalen Souveränität, der Machtpolitik und der Art von Kampf, die militärische Macht notwendig macht.
Der reuelos-marxistische Historiker Eric J. Hobsbowm prägte die These vom kurzen 20. Jahrhundert, welches für ihn nur von 1914 bis 1991 dauerte. Lucio Caracciolo stellt dem seine Auffassung eines langen 20. Jahrhunderts entgegen, welches in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann und noch immer andauert. Die Auseinandersetzung zwischen dem britischen See-Imperium und dem russischen Land-Imperium im Krimkrieg (1853-1856) markiert seinen Anfang. Im gleichen geopolitischen Raum im Osten Europas begann ein dreiviertel Jahrhundert später die Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Russland, die darüber entscheiden sollte, welche der beiden Mächte Europa und damit Eurasien beherrschen wird. Heute ist die Ukraine wieder zum Austragungsortes des Kampfes um Eurasien geworden. Diesmal findet er zwischen Amerika auf der einen Seite und einer Kombination aus Deutschland, Russland und China auf der anderen Seite statt, so Caracciolo.
Die Intentionen der Hauptakteure sind für ihn offensichtlich. Russland ist noch immer von seiner Phobie vor dem Eindringen feindlicher Völker in seinen Raum beherrscht und deswegen bestrebt, die Grenzen seines Reiches so fern wie möglich von Moskau zu ziehen. Für Amerika gibt es nach Caracciolos Ansicht drei Ziele: 1. Russland für immer als Großmacht auszuschalten, 2. das russisch-chinesische Paar auseinanderzubrechen und 3. die Energiepartnerschaft zwischen Deutschland und Russland zu beenden. Man könnte auch sagen: eine Einheit der drei größten eurasischen Mächte zu verhindern.
Europa und insbesondere Deutschland sieht Caracciolo als größte Verlierer in diesem großen Konflikt. Dann wirft er einen detailierten Blick auf Deutschland, den „durch das deutsche Prisma erscheint alles klarer“: Deutschlands geopolitisches Modell einer engen Energiepartnerschaft mit Russland und einer Handelspartnerschaft mit China sieht er als gescheitert an. Es ist zum Opfer seiner prekären geopolitischen Lage zwischen Ost und West geworden. Im Kalten Krieg geteilt, hatte es nach 1989 von der geopolitischen Friedenrente profitiert. Doch dies weckte das Mißtrauen der Amerikaner. Caracciolo spricht dann aus, was in Deutschland noch immer mit einem Tabu belegt ist: das heutige Deutschland ist ein Staat mit einer eingeschränkten Souveränität, der besonders in Kriegszeiten von seinem Hegemon genauestens überprüft wird. Für die Amerikaner gilt das dritte Gebot der NATO („Germans under“ – „die Deutschen unten halten“) noch immer. Entsprechend ist Amerika nun bemüht, Deutschland zu schwächen und ein neues Europa aufzubauen, welches im Rhythmus des polnisch-baltischen Herzens schlagen soll – unter britischer Aufsicht und Fernsteuerung aus Washington.
Deutschlands Abstieg ist damit zugleich der Aufstieg Polens, denn immer wenn es Deutschland und Russland schlecht geht, so Caracciolo, geht es Polen gut. Doch dies könnte für Amerika nach seiner Ansicht mittelfristig zu einem neuen Problem führen: Polen ist im Gegensatz zu Westeuropa geschichts- und identitätsrevisionistisch. Caracciolo fragt, wie Polen wohl im Falle eines Zusammenbruchs Russland, der Ukraine oder beider handeln würde. Einen Hinweis darauf gibt Polens Reaktion auf die deutsche Krise.
Am 14. September verabschiedete das polnische Parlament eine Resolution, mit der Deutschland aufgefordert wird, 1,3 Billionen Euro als Wiedergutmachung für die Besetzung Polens von 1939 bis 1945 zu zahlen. Caracciolo kommentiert diese Forderung mit dem Satz: „In normalen Zeiten käme dies einer Kriegserklärung gleich.“ Er stellt außerdem fest, dass sich Polen anscheinend immernoch im Zweiten Welt wähnt – verfeindet mit Deutschland und Russland, verbündet mit den USA und Großbritannien. Um die Argumente Begründung der Resolution zu untermauern, „betrachtet die polnische Regierung den Kriegszustand mit Deutschland als praktisch in Kraft“, so Caracciolo. Sie ignoriert die Bestimmungen des Potsdamer Abkommens ebenso wie die deutsch-polnischen Vereinbarungen und den Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990. Für Caracciolo ist die polnische Resolution ein „Musterbeispiel für die geopolitische Nutzung der Geschichte“.
Am Schluß seines Editorials blickt Lucio Caracciolo aus der Perspektive der USA auf die sich verändernde Welt. Im amerikanischen Blick läuft alles nach Plan: „Auf der europäischen Bühne befindet sich Russland in einem selbstverschuldeten Wutanfall, Deutschland stammelt fassungslos vor sich hin. Auf der asiatischen Seite ist China mit seiner übermäßigen Arroganz vom Kurs abgekommen (…).“ Caracciolo stellt fest: „Die Russen, die Deutschen und die Chinesen sind gemeinsam in die Falle des Pivot to Asia getappt. Das Ziel war nicht so sehr, den Druck direkt auf China zu verlagern, sondern seine privilegierten geoökonomischen Beziehungen zu Deutschland und dem Rest Europas zu brechen – erinnert sich noch jemand an die Seidenstraßen?“ Das gewünschte Ergebnis – die Zerschlagung des deutsch-chinesischen Paares – wurde erreicht, in dem das deutsch-russische und das chinesisch-russische Paar zerschlagen wurde.
Das Fazit des Limes-Herausgebers Caracciolo ist die Feststellung, dass eine ganz andere Welt im Entstehen begriffen ist und dass wir – also die Italiener – wohl fast nichts dagegen tun können.