Am 17. Oktober 2022 fand im Europasaal des Deutschen Bundestages eine Anhörung des Auswärtigen Ausschusses zum Thema „Systemische Konkurrenz“ von liberalen Demokratien und autoritär geführten Staaten: Handlungsstrategien zur Wahrung der regelbasierten internationalen Ordnung statt, zu der ich als Sachverständiger geladen wurde. Die nachfolgende schriftliche Stellungnahme hatte ich zur Vorbereitung der Anhörung eingereicht:
1.
„Auf einer Versammlung der Tiere traten die Hasen auf und forderten gleiche Rechte für alle. Darauf entgegneten die Löwen: ‚Wo sind eure Zähne und Klauen?‘ Konfrontiert mit der Forderung nach allgemeiner Rechtsgleichheit, bestanden sie auf der Voraussetzung der Waffengleichheit. Und als die Hasen weder Zähne noch Klauen vorzuweisen hatten, war ihr Antrag erledigt.“[1]Herfried Münkler: Politische Bilder, Politik der Metaphern, Frankfurt am Main 1994, S. 93.
Diese Fabel des Antisthenes, eines Schülers von Sokrates, wurde mit beipflichtenden Worten von Aristoteles übermittelt. Sie richtete sich gegen die egalitären Forderungen der demokratischen Partei von Athen, hat aber auch Gültigkeit für das Verhältnis zwischen den Staaten. So verstanden ist die Botschaft dieser Fabel eindeutig: die Staaten sind nicht gleich. Ihre jeweilige Stellung resultiert daraus, ob sie über Zähne und Klauen, also über eigene Machtmittel, verfügen.
Spricht man von einer „regelbasierten internationalen Ordnung“, so darf man diese nicht als eine Ordnung verstehen, in der alle Staaten die gleichen Rechte und Pflichten haben. Die Großmächte (die Löwen) nehmen aufgrund ihrer überlegenen Macht Vorrechte gegenüber den Machtlosen (den Hasen) in Anspruch.
Am deutlichsten zeigt sich dies in der Charta der Vereinten Nationen. Die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates haben ein Veto-Recht gegen Entscheidungen des Gremiums, womit sie Maßnahmen gegen sich selbst verhindern können. In der Praxis gibt ihnen dies die Möglichkeit, das Gewaltverbot der UN-Charta verletzen zu können, ohne ernsthafte Konsequenzen befürchten zu müssen.
Eine weitere deutliche Ungleichheit betrifft den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Er wird von 123 Staaten unterstützt, nicht jedoch von den USA, China, Russland, Indien, Israel und der Türkei. Für sich selbst lehnen diese Staaten eine Unterwerfung unter seine Gerichtsbarkeit ab.
Auch der Atomwaffensperrvertrag ist eine Regelung, welche eine Ungleichheit unter den Staaten schafft und aufrechterhält, indem er den Atommächten ein Monopol ihrer Macht sichert. Die im Vertrag enthaltene Verpflichtung zur Abrüstung wird von den Atommächten ignoriert.
Wer von einer „regelbasierten internationalen Ordnung“ spricht, die es zu wahren gilt, muss sich bewusst sein, dass dies keine Ordnung ist, deren Regeln für alle gleich gelten. Es ist eine Ordnung, die in vielen Bereichen die Schwachen bindet und die Starken begünstigt. Der mit schönen Worten verborgene Kern dieser Ordnung ist das alte Recht des Stärkeren.
2.
Die Weltpolitik wird im Wesentlichen von der Konfrontation der Großmächte bestimmt. Der Einfluss der anderen Staaten ist begrenzt. Wenn sie handeln, dann oft lediglich als Klientelstaat einer Großmacht.
Zwischen den Großmächten bildet sich in der Regel ein mehrpoliges System heraus, idealtypisch als Pentarchie von fünf Mächten, welches sich durch ein Gleichgewicht der Kräfte stabilisiert. Durch Krisen und Kriege können Staaten den Großmachtstatus verlieren, durch kluges Handeln können sie ihn gewinnen. Durch besondere Umstände kann eine Großmacht innerhalb des Weltsystems eine hegemoniale Stellung erlangen, so Großbritannien im 19. Jahrhundert und die USA nach 1945. Der Welthegemon etabliert dann eine auf sich zentrierte Weltordnung.
Keine Weltordnung aber währt ewig. Die hegemoniale Großmacht wird regelmäßig von einer aufstrebenden Großmacht herausgefordert. Graham Allison bezeichnete diesen Vorgang als Thukydides-Falle, begrifflich abgeleitet vom Konflikt zwischen Sparta und Athen, den Thukydides in seiner Xyngraphē beschrieb.[2]Graham Allison: Destined for War. Can America and China Escape Thucydide’s Trap?, New York 2017. Mit Blick auf die Geschichte beschrieb Allison, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass eine hegemoniale Großmacht mittels Krieg zu verhindern versucht, von der aufstrebenden Großmacht verdrängt zu werden.
Die gegenwärtige Weltpolitik wird im Wesentlichen von der Frage bestimmt, welchen Verlauf die Konfrontation zwischen der hegemonialen Großmacht USA und der aufstrebenden Großmacht China nehmen wird.
3.
Die Konfrontation zwischen hegemonialer und aufstrebender Großmacht hatte in der Geschichte oftmals den Charakter einer Systemkonkurrenz. Angefangen beim Konflikt zwischen dem oligarchischen Sparta und dem demokratischen Athen, über die Konfrontationen zwischen Frankreich und Großbritannien im 18. und frühen 19. Jahrhundert, zwischen Großbritannien und Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zwischen den USA und der Sowjetunion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zu der zwischen den USA und China, die das 21. Jahrhundert bestimmen wird.
Es scheint kein Zufall zu sein, dass in all diesen Konflikt die jeweils führende Landmacht mit der jeweils führenden Seemacht im Konflikt war. Auch mag die innere Organisation der Großmächte wesentlich durch die Grundlage ihrer Macht – Land oder Meer – bestimmt zu sein. Landmächte werden in der Regel vom Adel und Militär beherrscht, also von einer hierarchisch und autoritär organisierten Elite. Seemächte hingegen werden in der Regel von einer heterarchisch und liberal organisierten Elite beherrscht, die sich im Wesentlichen aus den Inhabern der privaten Geldvermögen zusammensetzt.
Wenn man den gegenwärtigen Weltkonflikt als einen solchen zwischen liberalen Demokratien und autoritär geführten Staaten versteht, dann darf die Binnenorganisation der Großmächte nicht als bestimmend für ihr außenpolitisches Agieren angesehen werden. Liberale Demokratien können außenpolitisch autoritär auftreten, um ihre Vormachtstellung zu verteidigen – autoritär geführte Staaten können hingegen als Fürsprecher einer multipolaren und liberalen Weltordnung auftreten.
4.
Auch für die Binnenorganisation der liberalen Demokratien und autoritär geführten Staaten gilt, dass diese jeweils nur Mischformen aus freiheitlichen (liberal-demokratischen) und autoritären Elementen bilden.
So sind die westlichen liberalen Demokratien nach Ansicht einiger Politikwissenschaftler bereits zu „Postdemokratien“ (Colin Crouch) geworden.[3]Colin Crouch, Postdemokratie, Berlin 2008. Der zunehmende Einfluss von Interessensgruppen und Nichtregierungsorganisationen ohne demokratische Legitimation geben den liberalen Demokratien zunehmend den Charakter von Oligarchien.
Autoritär geführte Staaten hingegen sind mit wachsendem Wohlstand und dem damit verbundenen Aufkommen einer gebildeten Mittelschicht zunehmend auf deren Zustimmung angewiesen. Sie versuchen, diese im Wege der Output-Legitimierung durch eine Politik zu erreichen, die den Wohlstand und die Sicherheit dieser Mittelschicht erhöht, sowie durch Einführung begrenzter liberaler und demokratischer Elemente.
Freiheitliche Elemente und autoritäre Elemente sind daher nicht als gegensätzlich, sondern als komplementär zu betrachten. Entscheidend für den Erfolg eines Systems ist daher stets das Mischungsverhältnis zwischen freiheitlichen und autoritären Elementen. Zwei Beispiele können dies illustrieren:
Das Militär ist traditionell autoritär organisiert, da dies eine schnelle und reibungslose Ausführung der anstehenden Aufgaben ermöglicht. Die preußischen Militärreformer verbesserten mit Einführung der Auftragstaktik die autoritäre Militärorganisation jedoch durch Aufnahme freiheitlicher Elemente.
Die Wirtschaft funktioniert empirisch nachweisbar auf freiheitlicher Grundlage (Marktwirtschaft) besser als auf autoritärer (Planwirtschaft). Wie die Freiburger Schule der Nationalökonomie bewiesen hat, funktioniert sie noch besser, wenn die freiheitliche Ordnung durch autoritäre Eingriffe klug eingehegt wird (Ordoliberalismus).
Spricht man von einer Systemkonkurrenz von liberalen Demokratien und autoritär geführten Staaten, so sollte man sich bewusst sein, dass es dabei genau genommen um die Frage handelt, welches Mischungsverhältnis von freiheitlichen und autoritären Elementen jeweils vorhanden und welches leistungsfähiger ist.
5.
Eine Systemkonkurrenz lässt sich ideologisch oder pragmatisch betrachten. Wenn offensichtlich ist, dass man vom konkurrierenden System nichts lernen kann, da es objektiv betrachtet weniger leistungsfähig ist, so ist eine ideologische Beurteilung zweckmäßig. Ist jedoch das konkurrierende System erfolgreich in dem, „was hinten rauskommt“ (Helmut Kohl), dann ist das pragmatische Lernen von ihm zweckmäßiger.
Wenn heute von systemischer Konkurrenz zwischen den liberalen Demokratien und den autoritär geführten Staaten gesprochen wird, dann geht es bei den letztgenannten wohl nicht um solche Staaten wie Saudi-Arabien, den Iran oder Russland. Deren Leistungsfähigkeit beruht im Wesentlichen auf der Ausbeutung von Bodenschätzen. Der echte systemische Konkurrent der liberalen Demokratien des Westens ist China, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich von einer zweitrangigen Macht zum Herausforderer der Weltmacht USA entwickelt hat.
Die systemische Konkurrenz mit China ist daher auch keine moralisch-ethische Frage, sondern eine ganz praktische, die u.a. folgende Punkte betrifft:
- Wer ist wirtschaftlich und militärisch leistungsfähiger?
- Wer hat zufriedenere Staatsbürger?
- Wer ist resilienter und innovativer?
Insbesondere die letztgenannte Frage ist entscheidend dafür, welches System sich in der gegenwärtigen Systemkonkurrenz als Gewinner durchsetzen wird. Besitzt das System genügend Resilienz, um die momentanen Krisen zu überstehen oder wird es kollabieren? Ist es innovativ genug, um im Wettrennen um die Künstliche Intelligenz vorn zu liegen? Diese beiden Fragen werden entscheiden, welche Großmacht der Welthegemon dieses Jahrhunderts sein wird.[4]Henry A. Kissinger, Eric Schmidt, Daniel Huttenlocher: The Age of AI. And Our Human Future, London 2021, S. 135 ff.
6.
Wie oben aufgezeigt wurde, wird die Weltpolitik im Wesentlichen von den Großmächten, den Löwen, bestimmt. Aber was ist mit den Hasen?
Ihnen bleiben im Wesentlichen nur drei Möglichkeiten:
Erstens können sie sich den Löwen unterwerfen. Die Demütigung dieses Vasallentums können sich dadurch abmildern, dass sie sich einreden, von einem wohlwollenden Löwen geschützt zu werden.
Zweitens können sie den Hasenaufstand wagen und behaupten, dass nicht Zähne und Klauen für das gedeihliche Zusammenleben der Tiere entscheidend sind, sondern gleiche Rechte. Solche Hasenaufstände enden freilich meist mit einem Prankenhieb eines Löwen.
Drittens können die Hasen danach streben, sich Zähne und Klauen wachsen zu lassen, um selbst zum Löwen zu werden – oder, sofern dies nicht möglich ist, sich durch Klugheit in einen Fuchs zu verwandeln, wie Herfried Münkler anmerkt.[5]Herfried Münkler: Hasen und Löwen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Mai 2003
Europa – und Deutschland im Besonderen – scheint derzeit gleichzeitig alle drei Möglichkeiten halbherzig anzugehen: es unterwirft sich dem Hegemon USA, probt gelegentlich den Hasenaufstand gegen die Löwen und versucht ungeschickt, sich Zähne und Klauen wachsen zu lassen. Sein Erfolg wird aber vor allem davon abhängen, ob es in der Lage ist, seine Hasengesinnung abzulegen und sich daran zu erinnern, dass es früher selbst ein Löwe war.
Anmerkungen
1 | Herfried Münkler: Politische Bilder, Politik der Metaphern, Frankfurt am Main 1994, S. 93. |
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2 | Graham Allison: Destined for War. Can America and China Escape Thucydide’s Trap?, New York 2017. |
3 | Colin Crouch, Postdemokratie, Berlin 2008. |
4 | Henry A. Kissinger, Eric Schmidt, Daniel Huttenlocher: The Age of AI. And Our Human Future, London 2021, S. 135 ff. |
5 | Herfried Münkler: Hasen und Löwen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Mai 2003 |