Die herkömmliche Analyse der Ukraine-Krise in den deutschen „Qualitätsmedien“ ist äußerst simpel: Russlands Präsident Wladimir Putin will in die Ukraine einmarschieren und das Land annektieren. Eine differenziertere Betrachtung sieht in Putins militärischem Handeln den Versuch einer russischen Unterstützung einer Sezession eines östlichen Teils der Ukraine. Beiden Analysen ist gemeinsam, dass sie fest davon ausgehen, es ginge in der Ukraine-Krise vor allem um die Ukraine.
Aus geopolitischer Sicht ist die Situation jedoch komplexer. Für Russland, ebenso wie für die USA, ist die Ukraine lediglich ein geopolitischer Hebel – ein Hebel, dessen eigentliches Zielobjekt Deutschland ist. Verkürzt lässt sich sagen, dass Russland die Ukraine benutzt, um einen Keil zwischen Deutschland und die USA zu treiben, wohingegen die USA die Ukraine benutzen, um einen Keil zwischen Deutschland und Russland zu treiben.
Die geopolitische Strategie Russlands
Zunächst eines vorweg: Zwar würde Putin nach eigenen Worten gern ein Russisches Reich in den Grenzen der alten Sowjetunion auferstehen sehen. Doch ihm wird auch klar sein, dass eine vollständige militärische Eroberung der Ukraine deren Bewohner nicht zu folgsamen Bürgern eines solchen Großrusslands machen würde. Realistischer ist, dass sein Truppenaufmarsch eine kommende Sezession eines östlichen Teils der Ukraine sichern soll, indem er damit die Regierung in Kiew davor warnt, eine solche Sezession militärisch zu verhindern. Mit Sicherheit hat Putin mit der Aktion aber weitaus mehr im Sinn, als nur die Erlangung einiger ukrainischer Provinzen. Der eigentliche Zweck seines Truppenaufmarschs an den Grenzen der Ukraine ist vermutlich, das globale Imperium der USA (auch bekannt als: „der Westen“) zu spalten und damit entscheidend zu schwächen. Und der Punkt, an dem Russland den Hebel Ukraine dazu ansetzt, ist Deutschland.
Die deutsch-russische energiewirtschaftliche Symbiose begann am 1. Februar 1970 mit Unterzeichnung eines Vertrages zur Lieferung von Großröhren durch deutsche Unternehmen im Austausch für Erdgaslieferungen der Sowjetunion. Daraus ist für beide Seiten eine Abhängigkeit erwachsen, die das gegenseitige Vertrauen verstärkt hat, welches sicherlich dazu beigetragen hat, dass es 1989 keinen sowjetischen Widerstand gegen die deutsche Wiedervereinigung gegeben hat. Russland hat seitdem zuverläßlich Gas geliefert und Deutschland hat es pünktlich bezahlt. Dass Deutschland mittlerweile hochgradig vom Import russischen Erdgases abhängig und damit ökonomisch verwundbar geworden ist, kann man den Russen nicht vorwerfen. Die Verantwortung dafür trägt die deutsche Seite, die unter Kanzlerin Merkel gleichzeitig aus der Autokraft und der Kohle ausgestiegen ist und sich auf den Irrweg einer undurchdachten Energiewende begeben hat.
Scheinbar paradoxerweise ist es jedoch nicht Russland, dass die deutsche Erdgasabhängigkeit ausnutzt, sondern die USA. Seit einigen Jahren versuchen diese, die russisch-deutsche NordStream-2-Pipeline zu blockieren, was jedoch trotz jahrelanger Sanktionen nicht gelang. Als Argument für diesen geoökonomischen Angriff führten die Amerikaner dabei stets an, Deutschland würde sich mit der Pipeline in weitere Abhängigkeit von Russland bringen und es zudem auch durch den Erdgaskauf finanziell stärken. Unerwähnt blieb lange, dass die USA selbst jedes Jahr für viele Milliarden US-Dollar Erdöl von Russland kaufen, diese Geschäfte aber selbstverständlich nicht einschränken wollen. Diese Doppelzügigkeit stößt in Deutschland zunehmend auf Kritik.
Die Versuche der USA, die zweite NordStream-Pipeline zu verhindern, mögen auch dazu dienen, Deutschland zum Kunden für teureres US-Fracking-Gas zu machen. Doch vor allem geht es den Amerikanern darum, eine enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland zu verhindern. Damit folgen sie der alten geopolitischen Doktrin von England, welche maßgeblich von Halford Mackinder formuliert wurde: Die größte Gefahr für die Hegemonie der Seemacht England — dies gilt heute analog für die USA — geht von einer Verbindung der beiden Landmächte Deutschland und Russland aus. Entsprechend taten die Engländer ebenso wie auch jetzt die USA alles, um Deutschland und Russland voneinander zu entfremden.
Putins Strategie besteht nun vielleicht paradoxerweise darin, die USA mit der Bedrohung der Ukraine dazu zu bringen, die Sanktionen des Westens gegenüber Russland zu verschärfen. Für Deutschland stellt dies jedoch eine fatale Falle dar. Es würde durch die USA gezwungen werden, die jahrzehntelangen stabilen Handelsbeziehungen mit Russland komplett aufzugeben. Zudem würde es seine Energieversorgung gefährden, was schlimmstenfalls zu kalten Stuben und dem Stillstand der deutschen Wirtschaftsmaschine führt. Kurzgesagt will Putin also Deutschland nicht selbst den Energiehahn auf seiner Seite der Pipeline abdrehen, sondern provozieren, dass Deutschland die Leitung auf seiner Seite auf Befehl der USA schließt. Dies würde innerhalb Deutschlands unweigerlich zu heftigen Konflikten führen, welche aus russischer Sicht im besten Fall zu einer ernsten Entfremdung zwischen Deutschland und den USA führen würde. Neben der Frage von Wirtschaftssanktionen gegen Russland ergeben sich aus der Ukraine-Krise auch einige weitere Konfliktfelder innerhalb des Westens. Etwa die Frage von Waffenlieferungen an die Ukraine oder wer sie dauerhaft alimentieren soll.
Wenn es Putin gelingt, Deutschland von den USA zu entfremden, wird dies unweigerlich auch zu Konflikten innerhalb Europas führen. Während Frankreich die Situation nutzen wird, um mit dem emanzipierten Deutschland die sicherheitspolitische Unabhängigkeit Europas voranzutreiben, werden Polen, Rumänien und die baltischen Staaten den USA sicherlich treu ergeben bleiben und damit Europa spalten. Die NATO würde dadurch unweigerlich geschwächt, ebenso die EU. Möglicherweise würden beide Institutionen in der Folge sogar zerfallen. Über die Sicherheit in Europa würde dann in Paris, Berlin und Moskau entschieden – und nicht mehr in Washington.
Die geopolitische Strategie der USA
Für die USA ist Russland nicht mehr der strategische Hauptgegner. Zwar ist es durch sein großes Atomwaffenarsenal und seine strategische Tiefe der einzige Staat, der die USA ernstlich militärisch bedrohen kann, doch ökonomisch ist Russland relativ schwach und auf dem Gebiet kein Gegner. Die beiden wirklichen strategischen Hauptgegner der USA sind hingegen China und Deutschland.
Mit China hat Ukraine-Krise nichts zu tun. Das amerikanische Handeln in ihr richtet sich allein gegen Deutschland. Es soll – wie oben bereits dargestellt – gezwungen werden, seine Kontakte zu Russland abzubrechen, insbesondere den Erdgas-Import über die beiden Nord Stream-Pipelines. Darüberhinaus soll Deutschland dazu gedrängt werden, der Ukraine Waffen zu liefern. Im Ergebnis könnten dann mit deutschen Waffen wieder russische Soldaten getötet werden. Die deutsch-russische Freundschaft würde dies stark belasten.
Seit der deutschen Wiedervereinigung 1990 fürchten die USA eine Emanzipierung ihres treuesten Vasallen. Präsident George Bush, ein Freund Deutschlands, wollte das formal souverän gewordene Land als „partner in leadership“ gewinnen, wovon seine Nachfolger jedoch gleich wieder abrückten. Mit einem Führungspartner ließe sich sicherlich nicht so umgehen, wie zuvor mit dem besetzten Staat. In der Folge änderte sich nichts. Die USA behielten ihre großen Militärstützpunkte in Deutschland und konnten, gedeckt vom NATO-Statut im Land weiter tun, was sie wollten. Über ihren Stützpunkt Ramstein lief die Logistik für die Golfkriege, von Stuttgart aus wurden die amerikanischen Drohen in den Anti-Terror-Kriegen gesteuert und am Internet-Knoten in Frankfurt am Main, dem größten der Welt, fing die NSA alle Daten ab – und tut es immer noch. Auch auf die Spionage gegen deutsche Unternehmen wollten die USA nicht verzichten, ebensowenig wie auf das Abwerben der besten deutschen Hightech-Startups. Die deutschen DAX-Konzerne sollen zudem auch weiterhin fest in amerikanischen Händen bleiben. Kurzum, Deutschland ist die wertvollste Perle im globalen US-Imperium. Wenn die USA Deutschland verlieren, dann verlieren sie Europa; und wenn sie Europa verlieren, dann sind sie kein Imperium mehr.
Die Bedeutung Deutschlands für die USA ist nicht nur militärstrategischer oder ökonomischer Natur. Sein Beutewert verbindet sich mit einer inhärenten Gefahr für die USA. Denn Deutschland hat das Potential, zum Nukleus eines neuen Imperiums zu werden – eines, welches an die Stelle des amerikanischen treten kann. Dies klingt angesichts der Qualität der derzeitig herrschenden deutschen Eliten sicherlich zunächst absurd. Doch entspringt dieses Potential vor allem der deutschen allgemeinen organisatorischen Leistungsfähigkeit und des hohen Ansehens Deutschlands in der Welt. Es ist kaum denkbar, dass sich viele entwickelte Staaten West- und Nordeuropas um Russland scharen würden. Ihm fehlt dazu das kulturelle Kapital und die kulturelle Kompatibilität. Gleiches gilt für China, welches aufgrund seiner kulturellen Abgeschlossenheit und Andersartigkeit für viele immer fremd bleiben wird. Deutschland hingegen hat aufgrund seiner kulturellen Attraktivität und Vertrautheit Sympathien in der ganzen Welt. In Umfragen der BBC über die weltweite Beliebtheit von Staaten liegt Deutschland regelmäßig auf dem ersten Platz, die USA, Russland und China hingegen kommen weit abgeschlagen dahinter. Zwar muss man zugeben, dass Imperien in der Regel nicht von den beliebtesten Staaten begründet wurden, sondern von den machtbewusstesten, doch kann man Deutschland sicherlich historisch betrachtet nicht absprechen, in seiner kulturellen DNA auch eine hohes Maß an Machtwillen zu haben. Die entsprechenden neuen Eliten werden sich dann schon finden.
Um also ihr Imperium zu bewahren, müssen die USA vor allem Deutschland schwächen. Diese Lektion haben sie von den Engländern übernommen, welche den rasanten Aufstieg des Bismarck-Reiches nur durch einen Weltkrieg stoppen konnten. Die USA brauchen dazu keinen Weltkrieg, ihnen genügt ein Wirtschaftskrieg, der vor allem mit Sanktionen geführt wird. Die Ukraine-Krise gibt den USA die Möglichkeit, Deutschland zu zwingen, seine wirtschaftlichen Kontakte zu Russland abzubrechen und und sich gegenüber der Ukraine zu positionieren. Die Ukraine soll für Deutschland zum Prüfstein seiner Loyalität zu den USA werden. Es soll endlich Farbe bekennen und nicht mehr versuchen, eine Mittelposition einzunehmen. Dass die USA zudem noch teures Fracking-Gas an Deutschland verkaufen können, welche ein Mehrfaches des russischen Gases kostet, ist ein schöner Nebeneffekt. Der eigene Profit verbindet sich mit einem finanziellen Verlust für Deutschland in gleicher Höhe.
Damit all dies eintreten kann, müssen die USA jedoch paradoxerweise hoffen, dass Russland tatsächlich in der Ukraine einmarschieren wird. Nur dann wäre der Vorwand da, um Deutschland moralisch und rechtlich (mittels US-Sanktionsgesetzen) zu zwingen, den Handel mit Russland aufzugeben und der Ukraine deutsche Waffen zu liefern. Im Idealfall für die USA würden sich dann irgendwann wieder deutsche und russische Soldaten gegenüberstehen. Den USA wäre dann wieder das gelungen, was den Engländern bereits zweimal im 20. Jahrhundert glückte — die beiden größten Landmächte Europas aufeinander zu hetzen, auf das sie sich gegenseitig vernichten. Das US-Imperium bliebe gesichert, die Ukraine hätte ihren Zweck erfüllt.
Die Strategien der geopolitischen Trittbrettfahrer
Russland und die USA sind nicht die einzigen Akteure der Ukraine-Krise. Es gibt auch Trittbrettfahrer, die auf der Krise ihr eigenes Süppchen kochen wollen.
Frankreich: Seit tausend Jahren haben die Franzosen das gleiche Problem. Sie wollen Europa beherrschen und stoßen dabei immer auf ein Hindernis: Deutschland. Jahrhundertelang bestand ihre Strategie darin, Frankreich fest zu einen und Deutschland zu zersplittern. Mit vielen Kriegen habe sie versucht, Deutschland zu schwächen, doch es wurde immer stärker. Die Ukraine-Krise könnte nun eine neue Gelegenheit sein, sich über den Erbfeind zu erheben. Nachdem Frankreich es mittels der EU nicht geschafft hat, die russisch-deutsche NordStream 2-Pipeline zu verhindern und damit Deutschland von Russland zu trennen, sucht es jetzt den direkten Kontakt zu Russland. Frankreichs Präsident Macron reiste dazu Anfang Februar nach Moskau, um vier Stunden lang mit Russlands Präsident Putin zu sprechen. Aus deutscher Sicht erinnert dies ein wenig an den Besuch von Poincaré bei Nikolaus II. im Juli 1914 und den von de Gaulle bei Stalin im Dezember 1944. Der Unterschied ist nur: Russland wird sich nicht noch einmal in einen Krieg gegen Deutschland zerren lassen, auch keinen ökonomischen. Aber darum geht es Macron wohl auch nicht allein. Frankreich nutzt lediglich die Gelegenheit der Ukraine-Krise, um nochmals Großmacht spielen zu können. Putin wartet hingegen auf die Reaktion aus Berlin.
Polen: Ebenso wie Frankreich träumt auch Polen davon, wieder eine Großmacht zu sein. Die Blaupause für sein neues Polnisches Imperium basiert auf den Intermarium-Plänen aus den 1930er Jahren, die nun mit amerikanischer Hilfe in Form der Drei-Meere-Initiative umgesetzt werden. Unverzichtbares Bestandteil darin ist die Ukraine. Ihre 44 Millionen Einwohner bringen zusätzliches Gewicht, ohne aufgrund des Entwicklungsgefälles den Einfluss der lediglich 30 Millionen Polen zu schmälern. Zudem gibt es historische Überscheidungen, da Galizien einst zu Polen gehörte. Auch binden zahlreiche ukrainische Gastarbeiter in Polen eine Brücke zwischen beiden Ländern. Im Rahmen der polnischen Großmachtpläne ist nun alles gut, was die Ukraine weiter von Russland entfremdet und in die polnischen Arme treibt. Zugleich fürchtet Polen jedoch einen heißen Krieg in der Ukraine, da dies unweigerlich zu einem ukrainischen Flüchtlingsstrom nach Polen führen würde. Aber die würden dann wahrscheinlich ohnehin nach Deutschland weiterziehen.
China: Für China ist die Ukraine-Krise eine Chance, Russland stärker an sich zu binden. Damit wäre die Bedrohung gebannt, dass Russland auf die Seite des Westens gezogen werden könnte. Die Chinesen erinnern sich noch gut daran, wie Nixon und Kissinger in den 1970er Jahren China auf die Seite der USA zogen und damit die Sowjetunion schwächten, da ihr der größte Verbündete abhanden gekommen war. Aber Biden ist zum Glück von China kein Nixon und Kissinger findet in Washington anscheinend kein Gehör mehr.
Und Deutschland?
Die Ukraine-Krise ist für Deutschland ein Dilemma. Die Taktik des Lavierens zwischen West und Ost von Kanzlerin Merkel funktioniert nicht mehr. Der neue Kanzler Scholz soll sich nun entscheiden und kann es nicht. In Washington lässt er sich als Vasall behandeln, in Moskau stiehlt ihm Macron die Show. Assistiert wird er von einer Außenministerin, die sich ohne ein Jura-Studium für eine Völkerrechtlerin hält und sich mehr für Klimapolitik als für Sicherheitspolitik interessiert. Dass die derzeitige deutsche Regierung deutsche Interessen vertreten wird, ist unwahrscheinlich. Eine Prognose ist daher schwierig.
Weitaus einfacher als eine Prognose abzugeben, ist es, zu sagen, was Deutschland aus geopolitischer Sicht tun sollte: Zunächst sollte es NordStream 2 in Betrieb nehmen, um die Gasversorgung zu sichern und den Anstieg der deutschen Energiekosten zu bremsen. Dann die bisherigen Sanktionen mit Russland aufheben und den gemeinsamen Handel wieder aufnehmen. In der Ukraine könnte Deutschland als Vermittler auftreten. Eine Föderalisierung des Landes nach deutschem Vorbild könnte die Ukraine politisch stabilisieren. Im Gegenzug zu einem ernsthaften ukrainischen Bemühen im Kampf gegen Korruption könnte das Land zwar nicht in die EU aber zumindest in den sogenannten Central European Manufacturing Core, also in die deutsche Wertschöpfungskette, aufgenommen werden. Dies würde die Ukraine auch wirtschaftlich stabilisieren. Mit zunehmendem Wohlstand würden auch die Konflikte innerhalb des Landes abnehmen. Die Krise wäre entschärft.