Am 25. Februar 2022, einen Tag nach Russlands Überfall auf die Ukraine, legten die USA dem UN-Sicherheitsrat eine Resolution vor, durch die der Angriff bedauert und Russland aufgefordert wurde, ihn zu beenden. Wie zu erwarten, legte Russland als eines der fünf privilegierten permanenten Mitglieder sein Veto dagegen ein, so dass die Resolution nicht angenommen werden konnte.[1]Security Council Fails to Adopt Draft Resolution on Ending Ukraine Crisis, as Russian Federation Wields Veto, Pressemitteilung der Vereinten Nationen vom 25.02.2022.
Gemäß Artikel 24 I der Charta der Vereinten Nationen hat der Sicherheitsrat “die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit”.[2]Charta der Vereinten Nationen – Kapitel V: Der Sicherheitsrat. Gemäß Artikel 41 kann der Sicherheitsrat die UN-Mitglieder auffordern, Unterbrechungen von Wirtschaftsbeziehungen, des Verkehrs und anderer gewaltloser Maßnahmen gegen einen Aggressor vorzunehmen. Sollte der von seinem Handeln dann nicht ablassen, kann der Sicherheitsrat gemäß Artikel 42 “mit Luft-, See- oder Landstreitkräften die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durchführen”. Kurzum, der Sicherheitsrat ist befugt, kriegerische Maßnahmen gegen einen Staat anzuwenden, der einen anderen Staat angegriffen hat.
Was die die UN-Charta nicht direkt sagt: es sei denn, der Angreifer ist eines der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates, welche mit einem Veto jeden Beschluss verhindern können. Oder anders formuliert: Die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates – die USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich – können selbst Angriffskriege führen, ohne dass die Vereinten Nationen etwas dagegen unternehmen können. Diese fünf privilegierten Staaten haben damit als einzige das Recht zum Kriegführen.
Als Putin die Ukraine angriff, war ihm bewußt, dass ihm seitens der Vereinten Nationen nichts drohen würde. Man könnte sagen, dass die Tatsache, dass Russland als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates jeden Beschluss verhindern kann, das Risiko eines Angriffskrieges auf die Ukraine noch erhöht hat. Angesichts dessen muss man fragen, ob es noch zeitgemäß ist, dass fünf Staaten dieses außerordentliche Privileg eines Vetos haben sollten.
Es ist auch keineswegs so, dass diese fünf Staat nur selten von ihrem Privileg Gebrauch machen. Sie tun es oft und immer dann, wenn sie sich in ihrer eigenen Handlungsfähigkeit eingeschränkt sehen. Ganze 263 legten sie bislang ein Veto gegen UN-Beschlüsse ein, die Hälfte davon durch die Sowjetunion bzw. deren Nachfolgestaat Russland. Das Scheitern eines Sicherheitsratsbeschlusses im Falle der Ukraine hat nun das Potential, die Vereinten Nationen selbst in Frage zu stellen. Dr. Matthias Hartwig vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg meint: “Wenn der Krieg beschränkt sein wird auf die Ukraine – was ja heute auch noch nicht ganz klar ist – dann gehe ich davon aus, dass die UNO überleben wird. Aber wenn es über die Ukraine hinaus geht, dann könnte die UNO obsolet werden und man müsste ein neues Sicherungssystem aufbauen, das vielleicht besser funktioniert.”[3]André Seifert: Ist das Vetorecht im UN-Sicherheitsrat noch zeitgemäß?, MDR Aktuell, 08.03.2022.
Den Versuch einer Reform der Vereinten Nationen hält Hartwig für aussichtslos: “Gucken Sie mal in die Geschichte der Vereinten Nationen rein, wie viele Reformen es gegeben hat: so gut wie nichts. Wenn Sie den Text der UN-Charta lesen, steht da immer noch Sowjetunion drin. Man war noch nicht mal in der Lage, die neue Bezeichnung für diesen Staat, die Russische Föderation da einzufügen.”[4]Ebd. Zwar gab es bereits mehrere Reformversuche, doch alle scheiterten letztlich am Veto der fünf ständigen Mitglieder. Trotz großer Gegensätze sind sich die Fünf in einem einig: ihre Privilegien dürfen nicht beschnitten werden.
Diese Sonderstellung der fünf Veto-Mächte ist nicht nur unzeitgemäß, weil diese dadurch nach Belieben Angriffskriege führen können, ohne völkerrechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen. Sie auch unzeitgemäß, weil diese fünf Staaten nur die weltpolitische Lage von 1945 repräsentieren, nicht aber die von 2022. Es lässt sich nicht mehr begründen, warum Großbritannien und Frankreich ständige Mitglieder sind, nicht aber die heute wirtschaftlich und demografisch bedeutenderen Staaten Indien, Japan und Deutschland.
Dass die Vereinten Nationen reformunfähig sind, zeigt sich auch an einem anderen Anachronismus: den Feindstaatenklausel in den Artikeln 53, 77 und 107 der UN-Charta. Danach dürfen alle Mitglieder der Vereinten Nationen gegen die als Feindstaaten definierten ehemaligen Achsenmächte des Zweiten Weltkriegs – also vornehmlich Deutschland, Japan und Italien – Zwangsmaßnahmen ohne besondere Ermächtigung des Sicherheitsrates ausüben, falls diese erneut eine “aggressive Politik” verfolgen. Mit anderen Worten: Russland könne deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine als “aggressive Politik” ansehen und als Vergeltung eine oder mehrere deutsche Städte atomar zerstören. Völkerrechtlich wäre das vollkommen legal.
Eine Regierung, die deutsche Interessen vertritt, müßte angesichts dessen mit anderen Staaten umgehend einen alternativen zwischenstaatlichen Zusammenschluss gründen und die Vereinten Nationen ebenso umgehend verlassen. Ihr Nutzen ist ohnehin nicht erkennbar.
Anmerkungen
1 | Security Council Fails to Adopt Draft Resolution on Ending Ukraine Crisis, as Russian Federation Wields Veto, Pressemitteilung der Vereinten Nationen vom 25.02.2022. |
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2 | Charta der Vereinten Nationen – Kapitel V: Der Sicherheitsrat. |
3 | André Seifert: Ist das Vetorecht im UN-Sicherheitsrat noch zeitgemäß?, MDR Aktuell, 08.03.2022. |
4 | Ebd. |