Die beiden Nord Stream-Erdgasleitungen verbinden Russland und Deutschland über die Ostsee direkt miteinander. Entstanden sind sie, weil Polen und die Ukraine für die Durchleitung des russischen Gases über die Leitungen Jamal, Sojus und Bratsvo hohe jährliche Gebühren von jeweils etwa 3 Milliarden Euro verlangten. Ein weiterer Grund war der mehrfache Erdgas-Diebstahl durch die Ukraine sowie deren wiederholte eigenmächtige Unterbrechung der Durchleitung des russisches Erdgases. Diese Gründe für den Bau der Nord Stream-Leitungen wurden in den vergangenen Jahren selten erwähnt.
Anschlag auf Nord Stream durch verdeckte Aktion
Am 26. September 2022 wurde in den beiden Nord Stream-Erdgasleitungen ein Druckabfall festgestellt. Kurz darauf bemerkten Aufklärungsflugzeuge des dänischen Militärs in der Ostsee an drei Stellen nahe der Insel Bornholm ausströmendes Gas. Ein viertes Gasleck wurde von der schwedischen Küstenwache entdeckt. Durch seismische Aufzeichnungen wurde später festgestellt, dass es bei Nord Stream 2 um am 26. September um zwei Uhr nachts zwei Explosionen erfolgten, durch eine der beiden Stränge an zwei Stellen zerstört wurde. Um 19 Uhr des gleichen Tages erfolgten auch an zwei Stellen von Nord Stream 1 Explosionen, wodurch beide Stränge der Leitung zerstört wurden.
Schnell war klar, dass diese Gaslecks vorsätzlich verursacht wurden, allgemein wurde von “Sabotage” gesprochen. Aufgrund der Komplexität des in über 70 Meter Wassertiefe erfolgten Anschlags, ging man sogleich davon aus, dass nur ein staatlicher Akteur als Täter in Frage kommt.
Die Frage, die nun im Raum steht, lautet: Wer hat die Nord Stream-Leitungen gesprengt?
Motiv und Mittel zur Tat
Aufgrund des Russisch-ukrainischen Krieges gibt eine Reihe von Staaten, die ein Interesse daran haben, Russland die Möglichkeit zu nehmen, durch direkten Erdgasexport nach Deutschland Einnahmen zu erzielen. Allen voran die Ukraine, dann Polen und schließlich die USA und Großbritannien, die sich unter den westlichen Staaten am entschiedensten gegen Russland positionieren. Daneben treten bei der Ukraine und Polen hinsichtlich der Sicherung ihrer Transitgebühren und bei den USA hinsichtlich des Verkaufs ihres Fracking-Gases auch wirtschaftliche Motive.
Es ist davon auszugehen, dass die genannten Staaten auch über die Mittel verfügen, die Tat mittels Kampfschwimmern oder Unterwasserdrohnen zu begehen.
Der Vollständigkeit halber ist anzumerken, dass Russland und Deutschland sicherlich ebenfalls über die Mittel verfügen, die Nord Stream-Leitungen zu sprengen. Ein Motiv zur Tat ist bei ihnen aber bei weitem nicht so offensichtlich wie bei den zuvor genannten Staaten.
Kosten und Nutzen der Tat
Wenngleich viele Staaten ein Motiv und die Mittel zur Tat haben, ist die Relation von Kosten und Nutzen bei ihnen sehr unterschiedlich.
Wer auch immer die Tat ausgeführt hat, muss dabei einkalkulieren, dass die eigene Täterschaft möglicherweise später bekannt wird. Es ist daher fraglich, ob die Ukraine oder Polen den Mut haben, eine solche Sabotageaktion auszuführen, denn die Sprengung der Nord Stream-Leitungen stellt einen militärischen Angriff auf eine kritische Infrastruktur mitten in Europa dar. Würde die Täterschaft bekannt werden, so wären wahrscheinlich die hohen Transferzahlungen in mehrstelliger Milliardenhöhe, die beide Staaten laufend von der EU und damit hauptsächlich von Deutschland erhalten, ernsthaft gefährdet. Ihre Täterschaft ist daher wohl auszuschließen. Gleiches gilt in geringerem Maße für Großbritannien, dass in vieler Hinsicht auf ein gutes Verhältnis zur EU angewiesen ist. Deutschland kann wohl gleichermaßen als Täter ausgeschlossen werden, da ihm die Zerstörung von Nord Stream nicht nur keinen Vorteil einbringt, sondern sogar erhebliche Nachteile, indem sie ihm die Möglichkeit nimmt, im Notfall Erdgas aus Russland zu importieren.
Es kommen daher nur zwei Staaten in Betracht, welche die Mittel zur Tat haben und zugleich aufgrund ihrer militärischen Macht und strategischen Unabhängigkeit eine Konfrontation mit Deutschland und den EU-Staaten nicht fürchten müssen: Russland und die USA.
Hat Russland seine eigenen Erdgasleitungen gesprengt?
Die amerikanische und polnische Regierung machen Russland für die Sprengung der Nord Stream-Leitungen verantwortlich. Ebenso die transatlantisch orientierten Medien. Zur Begründung führen letztere im Wesentlichen drei Gründe an:
Vertragsstrafentheorie: Der Spiegel berichtet, dass Experten des BND es für möglich halten, dass Russland mit der Zerstörung seiner eigenen Leitungen Vertragsstrafen wegen seines Erdgas-Lieferstopps entgehen will. Auch der russische Energieexperte Michail Krutichin sieht laut Spiegel Russland aus diesem Grund als wahrscheinlichen Täter. — Die Vertragsstrafentheorie überzeugt jedoch nicht. Denn einerseits hatte Russland für seine Reduzierung der Erdgaslieferung durch Nord Stream 1 bereits eine hinreichende Begründung. Danach würden durch die westlichen Sanktionen notwendige Ersatzteile für die Leitung fehlen. Zudem wäre dann auch die Zerstörung von Nord Stream 2 unnötig, da die Verhinderung von deren Inbetriebnahme nicht von Russland, sondern von Deutschland zu verantworten ist.[1]Der Spiegel, 40/2022, S. 13.
Signaltheorie: Im ARD-Morgenmagazin mutmaßte Johannes Peters vom Institut für Sicherheitpolitik der Universität Kiel, Russland wollte mit der Zerstörung seiner eigenen Pipeline ein “starkes Signal” an Europa senden, dass man gleiches auch mit den norwegischen Pipelines machen könne. Auch Carlo Masala, Professor an der Universität der Bundeswehr, hält die Nord Stream-Sprengungen für ein Signal Russlands an den Westen und den Versuch, im Westen “Verwirrung zu stiften”. — Auch die Signaltheorie überzeugt nicht. Denn warum ist es dazu notwendig, mit vier Explosionen drei von vier Strängen der eigenen Pipeline zu zerstören. Als Warnsignal hätte sicherlich auch die Zerstörung eines einzigen Stranges genügt. Nach der Peters/Masala-Logik könnte Putin auch eine Atombombe auf Moskau werfen, um zu zeigen, dass er mit seinen atomaren Drohungen nicht blufft.[2]https://www.prosieben.de/tv/newstime/politik/pipeline-sabotage-experten-vermuten-russland-hinter-anschlaegen-111430
Gaspreistheorie: Im Nachrichtensender WELT machte der israelische Geheimdienstexperte Shlomo Shpiro Russland für den Anschlag verantwortlich. Als Grund nannte er dessen Absicht, dadurch den Gaspreis in die Höhe zu treiben und dadurch die Europäer im Winter auf die Knie zu zwingen. Er ergänzte, dass die CIA bereits Monaten davor gewarnt hatte, dass Russland in der Lage sei, solche Sabotageaktionen durchzuführen. Interessanterweise konnte man jedoch aus einem Spiegel-Artikel erfahren, dass die CIA keineswegs vor einem Anschlag der Russen warnte, sondern vor einem der Ukrainer. — Auch dies Gaspreistheorie überzeugt nicht. Wie sich zeigte, hatte der Anschlag keinerlei Auswirkungen auf den Erdgaspreis. Die Märkte hatte bereits zuvor eingepreist, dass kein Gas durch Nord Stream floss.[3]https://www.youtube.com/watch?v=K7T8XgdXbog, Der Spiegel, 40/2022, S. 11.
Betrachtet man ganz nüchtern, was Russland mit der Sprengung der Nord Stream-Leitungen gewonnen und verloren hat, so können die genannten vermeintlichen Vorteile die Nachteile bei weitem nicht aufwiegen. Hier sind vor allem zwei große Schäden für Russland zu nennen:
Strategischer Schaden: Kürzlich hiess es noch unisono, Nord Stream sei für Russland ein politisches Druckmittel. Angesichts der Rufe der deutschen Opposition nach Öffnung von Nord Stream 2, um kalte Stuben im Winter und die drohende Deindustrialierung Deutschlands zu verhindern, hatte Russland mit den Pipelines einen Hebel, um einen Keil in die deutsche Innenpolitik und das NATO-Bündnis zu treiben. Es hätte Deutschland die Durchleitung von Erdgas gegen Aufhebung der Sanktionen anbieten können. Dieses strategische Druckmittel ist Russland mit der Sprengung genommen worden.
Wirtschaftlicher Schaden: Russland hat eine zweistellige Milliardensumme in den Bau der beiden Nord Stream-Leitungen investiert und kann durch sie jährlich mehrere Milliarden Euro an Einnahmen erzielen. Mit der Zerstörung der Leitungen ist die Exportkapazität für russisches Erdgas erheblich beschnitten worden. Ebenso Russlands Möglichkeit, Deutschland im größeren Umfang mit Erdgas direkt beliefern zu können.
Jenseits der politischen Führung der USA und denen seiner Gefolgsstaaten, sowie den transatlantisch orientierten Medien setzt sich zunehmend die Ansicht durch, dass Russland jedenfalls nicht der Täter sei. Gegenteilige Behauptungen ernten nur noch Spott.
Haben die USA ihre Drohungen wahr gemacht?
In Russland, China und großen Teilen der übrigen Welt werden überwiegend die USA für die Nord Stream-Anschläge verantwortlich gemacht. Zunehmend aber auch in der westlichen Öffentlichkeit, darunter auch von mehreren prominenten Amerikanern.
Douglas Macgregor, ein früherer Pentagon-Berater und designierter US-Botschafter in Deutschland, sieht die USA oder Großbritannien als wahrscheinliche Täter.[4]https://tass.com/world/1516625 Jeffrey Sachs, Ökonomie-Professor an der Columbia-Universität, macht die USA und Polen für die Tat verantwortlich.[5]https://www.berliner-zeitung.de/news/us-oekonom-jeffrey-sachs-usa-fuer-lecks-in-nord-stream-pipelines-verantwortlich-li.273128 Der Journalist Max Blumenthal twitterte einen Bericht über die Anwesenheit der USS Kearsarge, einem Spezialschiff für amphibische Operationen, im Bereich der gesprengten Nord Stream-Leitungen nur wenige Tage vor der Tat und wurde durch sie an den Ausspruch von Lord Ismay über die Funktion der NATO erinnert: “Die Russen draußen halten, die Amerikaner drin und die Deutschen unten.”
Der populäre Fox-Moderator Tucker Carlson zeigte sich in einer Sondersendung von der Täterschaft der USA überzeugt:
Als ein Indiz für die amerikanische Täterschaft sieht Carlson vor allem ein Statement von US-Präsident Biden vom 7. Februar 2022. In einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Scholz anlässlich dessen Staatsbesuchs sagte er auf die Frage einer Journalistin über Nord Stream 2: “If Russia invades… again, then there will be longer Nord Stream 2. We will bring an end to it.” Auf die Nachfrage der Journalistin, wie dies erfolgen solle, da das Projekt doch unter der Kontrolle Deutschlands stehe, antwortete Biden: “I promise you we will be able to do it.”[6]https://euroweeklynews.com/2022/09/28/watch-on-february-7-2022-us-president-joe-biden-threatened-to-end-the-nord-stream-2-pipeline/
Carlson weisst darauf hin, dass Biden in diesem Statement nicht sagte, die USA würden verhindern, dass Erdgas durch Nord Stream 2 geliefert wird. Es sagte, es würde dann “kein Nord Stream 2 mehr geben”, die USA würden der Pipeline “ein Ende setzen”. Dies klingt nicht nach Sanktionen, sondern eher der Drohung mit Gewalt. Dass diese Drohung kein spontaner Gedanke Biden war, zeigt ein ähnliches Statement einige Tage zuvor durch die neokonservative Staatssekretärin Victoria Nuland.[7]https://www.youtube.com/watch?v=njJIJrAuniI
Es sind auch keineswegs nur Kritiker der gegenwärtigen amerikanischen Außenpolitik, welche die Täterschaft der USA verkünden. Der frühere Außen- und Verteidigungsminister von Polen, Radek Sikorski, ein fanatischer Transatlantiker, zudem noch verheiratet mit der neokonservativen Anne Applebaum, veröffentlichte einen Tag nach den Nord Stream-Anschlägen einen viel beachteten Tweet – den er mittlerweile allerdings gelöscht hat:
Ebenso aufschlussreich ist eine Stellungnahme des US-Außenministers Anthony Blinken vom 30. September 2022 während einer Pressekonferenz mit seiner kanadischen Amtskollegin. Über den Anschlag auf die Nord Stream-Leitungen sagte er dort: “Dies ist eine großartige Gelegenheit, die Abhängigkeit von russischer Energie ein für alle Mal zu beenden und damit Wladimir Putin die Möglichkeit zu nehmen, Energie als Mittel zur Durchsetzung seiner imperialen Pläne einzusetzen.” Außerdem sei die Zerstörung von Nord Stream seiner Ansicht nach eine “großartige strategische Gelegenheit für die nächsten Jahre”.
Dabei muss man natürlich fragen: Eine großartige strategische Gelegenheit für wen? Für Deutschland sicherlich nicht. Es verliert nun die Möglichkeit, preisgünstiges russisches Erdgas zu importieren und ist künftig vom teuerem US-amerikanischen Fracking-Gas abhängig. Der schweizerische Verleger und Politiker Roger Köppel sieht in dieser Bemerkung von US-Außenminister Blinken eine Verhöhnung und Geringschätzung Europas.[8]https://youtu.be/7KMStelDt1I?t=585 Aus amerikanischer Sicht ist die Bemerkung zweifellos richtig. Europa und insbesondere Deutschland hat nun keine Möglichkeit mehr, seine Industrie durch billiges russisches Erdgas zu retten. Die deutsche energieintensive Industrie wird bereits zielstrebig durch die USA abgeworben. Der Wirtschaftskrieg gegen Deutschland und Europa, den Präsident Trump begonnen hatte, ist nun durch Präsident Biden – mutmaßlich – eskaliert worden.
Und wenn es die Amerikaner tatsächlich waren?
Wer meint, die USA würden doch keinen Dritten Weltkrieg riskieren, indem sie selbst eine russische Erdgas-Pipeline sprengen, der sei an 1982 erinnert. Damals gelang es der CIA im Auftrag von US-Präsident Reagan, durch den Verkauf einer manipulierten Software die russische Jamal-Erdgas-Pipeline in Sibirien mit einer gewaltigen Explosion zu sprengen.[9]https://www.derstandard.at/story/1583660/cia-verursachte-mittels-software-pipeline-explosion-in-sowjetunion-1982 Es ist daher nicht ersichtlich, was sie heute von der gleichen Tat abhalten sollte. Ihr “Bündnis” mit Deutschland sicherlich nicht.
Man erinnere sich diesbezüglich nur an die 2013 durch die Snowdon-Enthüllungen bekannt gewordenen Spionageangriffe auf die deutsche Regierung und die deutsche Hochtechnologieindustrie. Nach Bekanntwerden der massenhaften elektronischen Ausspähungen gab es einen leisen Protest der deutschen Regierung, aber keinerlei deutsche Strafmaßnahmen gegen die USA. Heute, fast zehn Jahre später, spioniert der amerikanische Geheimdienst NSA noch immer Deutschland aus.
Würden die USA als Täter der Nord Stream-Sprengung entlarvt, gäbe es wohl wiederum nur einen leisen Protest seitens der deutschen Regierung. Vielleicht sogar nicht einmal das. Als Präsident Biden am 7. Februar 2022 seine oben zitieren Worte sagte, wonach er Nord Stream “beenden” wolle, ergänzte Bundeskanzler Scholz diese Bemerkung damit, dass er versicherte, dass alle notwendigen Maßnahmen Deutschlands gemeinsam mit den USA erfolgen.[10]https://youtu.be/kF4PciriCqE Es wäre nicht undenkbar, dass der Kanzler vor der Tat über den Anschlag durch die Amerikaner informiert wurde. Eine erkennbare Empörung nach Bekanntwerden des Anschlags – Roger Köppel nennt die Tat eine Kriegserklärung an Deutschland[11]https://www.youtube.com/watch?v=NSauD9FmxLk – war bei Olaf Scholz jedenfalls nicht erkennbar. Andererseits ist für Außenstehende auch nicht ersichtlich, welchen (geheimen) Zwängen ein deutscher Kanzler seit 1949 ausgesetzt ist. Daher darf man mit seinem Urteil in dieser Hinsicht auch nicht zu hart sein.
Ein Gutes hat die Sprengung der Nord Stream-Leitungen zumindest: in den Augen der Welt ist die Ohnmacht von Europa und insbesondere von Deutschland nun jedenfalls offenkundig geworden. Die USA wiederum erscheinen auf dem Höhepunkt der Hybris angelangt zu sein – etwa da, wo Athen im Jahr 454 war, als es die Kasse des Attischen Bundes von Delos nach Athen verbrachte. Die Nemesis ist nun unausweichlich.
Anmerkungen