Mit Russlands Überfall auf die Ukraine am 24. Februar begann im pazifistischen Europa ein Rätseln darüber, warum Putin den Krieg begonnen habe. Manche hielten ihn schlicht für verrückt, andere sahen ihn von Machtgier getrieben. Fast niemand bewertete sein Handeln als rational. Dass der Entschluss zum Krieg einer rationalen Handlungslogik entsprechen kann, haben die Europäer weitgehend vergessen – die Amerikaner übrigens nicht. Die Franzosen wohl auch nicht, denn seit dem zweiten Weltkrieg haben sie fast in jedem Jahr irgendwo in Afrika militärisch interveniert.
Besonders im moralinsauren Deutschland fällt es vielen schwer, zu akzeptieren, dass Putins Handeln rational ist. Er sah, dass sich die NATO immer weiter nach Osten ausdehnte und erkannte, dass seine Warnungen – etwa auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007[1]Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf der 43. Münchner Sicherheitskonferenz 2007, . – im Westen nicht gehört werden. Da der Westen nach seiner Einschätzung zudem schwach geworden ist,[2]Ulf Poschardt: Putin hat keine Furcht vor dem Westen – weil wir so schwach geworden sind, Die Welt, 25.02.2022 entschloss er sich zum Angriff auf die Ukraine. Dies wohl nicht nur als Warnung an den Westen, wie viele – auch ich – anfangs vermutet hatten, sondern anscheinend mit der Absicht, das Russische Zarenreich wiederherzustellen.
Wer Putin Rationalität zugesteht, der wird in Deutschland schnell als „Putin-Versteher“ oder gar „Putin-Freund“ diffamiert. Auch dies ist ein Zeichen dafür, wie sehr dieses Land die Fähigkeit zu geopolitischem Denken verloren hat. Man versteht nicht mehr, den Unterschied zwischen Großmächten und solchen Staaten, die keine Großmächte sind. Man versteht nicht mehr, dass Großmächte nur andere Großmächte als ebenbürtig ansehen. Man versteht nicht mehr, warum Putin nur mit den USA verhandeln will, nicht aber mit Europa. Europäische Politiker wie Macron oder Scholz führt Putin vor und setzt sich mit ihnen an einen überlangen Tisch, während er den Chinesen Xi Jinping in seine Nähe lässt. Vor allem aber versteht man in Deutschland nicht mehr, dass Großmächte in Einflusszonen denken. Sie akzeptieren keine anderen Großmächte in ihrer unmittelbaren Nähe, auch keine Vasallen von anderen Großmächten. Auch das Denken in Herren und Vasallen, wie man es etwa auch im Grand Chessboard des Amerikaners Zbigniew Brzezinski findet, versteht man in Deutschland nicht. Hier erwartet man, dass Russland die Unabhängigkeit und Freiheit der Ukraine akzeptiert. Man versteht nicht, dass „die Starken tun, was sie wollen – die Schwachen aber tun, was sie müssen“.
Dieser Satz aus dem Melier-Dialog von Thukydides ist der komprimierte Kern der Geopolitik. Wer Russlands Handeln verstehen will, der sollte diesen zweitausendfünfhundert Jahre alten Text gelesen haben. Man muss nur gedanklich “Russland” an die Stelle von “Athen” und die “Ukraine” an die Stelle von “Melos” setzen.
Zusammenfassung und Erläuterung des Melier-Dialogs
Im sechszehnten Kriegsjahr war der Tyrannenstadt Athen das Herrschen ins Blut übergegangen und die Unterwerfung kleinerer Städte zur Routine geworden. So landete im Sommer 416 (v. Chr.) ein attischer Flottenverband mit 38 Schiffen und über 3.000 Kriegern an der kleinen Kykladeninsel Melos an, die sich bis dahin gegen einen Anschluss an den Attischen Seebund gewehrt hatte und neutral geblieben war. Die Ausgangslage war klar. Die Athener möchten die Insel in Besitz nehmen, nach Möglichkeit durch kampflose Unterwerfung der Polis, zur Not auch mit Gewalt. Das Kräfteverhältnis zwischen den beiden Kontrahenten könnte ungleicher nicht sein: Auf der einen Seite steht die auf dem Höhepunkt ihrer Macht befindliche Großmacht Athen, auf der anderen die unbedeutende kleine Inselpolis Melos. Thukydides schildert im Melierdialog die Verhandlungen zwischen den Abgesandten beider Seiten in einer Form, die für Raaflaub, „allen schmückenden Beiwerks entkleidet ist“ und „offenbar einzig den Zweck verfolgt, in der Reduktion auf das absolut Wesentliche die tiefsten und deshalb wahrsten Triebkräfte in solchen machtpolitischen Auseinandersetzungen aufzudecken“.[3]Raaflaub, Kurt: Politisches Denken im Zeitalter Athens, in: Iring Fetscher u. Herfried Münkler (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 1, Zürich 1988, S. 330.
Gleich zu Beginn der Verhandlungen proklamieren die Athener das Naturrecht des Stärkeren und weisen darauf hin, „dass Recht im menschlichen Verkehr nur bei gleichem Kräfteverhältnis zur Geltung kommt, die Stärkeren aber alles in ihrer Macht Stehende durchsetzen und die Schwachen sich fügen“. (Thuk. 5,89,1) Den Meliern eröffnen sie daraufhin, dass ihre Unterwerfung zum Nutzen beider Seiten sei. Die Melier würden nicht vernichtet werden und die Athener selbst könnten sich die Mühen der Eroberung ersparen. (Thuk. 5,93,1) Dem wollen die Melier jedoch nicht folgen. Ihren Gegenvorschlag, neutral zu bleiben und Freunde statt Feinde zu sein, weisen die Athener wiederum zurück, denn dies wäre ein Prestigeverlust für sie als Großmacht. Eine solche Freundschaft würden die unterworfenen Staaten als Beweis der Schwäche Athens ansehen, Hass hingegen gilt bei ihnen als Ausdruck der Stärke Athens. Nachdem die Athener die melische Neutralität als Prestigeverlust zurückgewiesen haben, sorgen sich die Melier um ihr eigenes Prestige im Fall einer Unterwerfung. Sie wenden ein, dass sie sich die Schande der Feigheit eintragen würden, wenn sie nicht alles unternähmen, um weiterhin frei zu sein. Darauf erwidern die Athener nur kühl, dass es doch keine Schande sei, sich einer so mächtigen Stadt wie Athen zu unterwerfen. (Thuk. 5,100,1-101,1) Als die Melier zu bedenken geben, dass im Kriege das Glück oft gleichmäßiger verteilt ist, als es dem Kräfteunterschied der Gegner entspräche und sie daher noch hoffen können, im Kampf standzuhalten, warnen die Athener sie, nicht alles aufs Spiel zu setzen, was sie besitzen. Auch sollten sie nicht auf irrationale Faktoren wie Weissagung und Göttersprüche vertrauen.(Thuk. 5,102,1-103,2) Für die rationalen Athener zählt allein der Nutzen und die Kalkulation von Machteinsatz, Ertrag und Risiko. Alexander Demandt sieht hier die sophistische Machtlehre im Denken der Athener, für die „religiös motivierte Ethik […] ein veralteter Bewußtseinszustand [ist]“ und nur das „Naturgesetz des universellen Egoismus“ Beachtung verdiene.[4]Alexander Demandt, Der Idealstaat, Köln, Weimar u. Wien 1993, S. 65.
Dennoch wollen auch sie die Götter nicht ungnädig stimmen, nachdem die Melier vorbringen, darauf zu vertrauen, von diesen nicht verlassen zu werden. Ihre Machtpolitik erklären die Athener daher zu einem göttlichen Gesetz:
„Wir glauben nämlich, dass der Gott wahrscheinlich, der Mensch ganz sicher allezeit nach dem Zwang der Natur überall dort, wo er die Macht hat, herrscht. Wir haben dieses Gesetz weder aufgestellt noch als Bestehendes zuerst befolgt, als gegeben haben wir es übernommen und werden es als ewig Gültiges hinterlassen; wir befolgen es in dem Bewusstsein, dass auch ihr oder andere, die dieselbe Macht wie wir errungen haben, nach demselben Grundsatz verfahren würden.“(Thuk. 5,105,2)
Die Macht ist für die Athener damit eine Göttergabe, sie selbst sind auswählt zu herrschen, die Unterwerfung der Schwächeren ist gottgewollt. Nach Ansicht von Nicolas Stockhammer haben die Athener damit die „Thukydideische Schwelle“ (Stockhammer) zur Korruption der Macht überschritten.[5]Nicolas Stockhammer, Das Prinzip Macht, Baden-Baden 2009, S. 95. Ebenso: Nicolas Stockhammer, Die Dialektik politischer Macht, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, 15. Jg., H. 1 (2006), … Continue reading Aus der bloßen Habgier (pleonexia) des Eroberers wurde Anmaßung (hybris), die maßlose Arroganz des Mächtigen. Auf die Hoffnung der Melier, dass ihnen die Lakadaimonier um ihrer Ehre willen zu Hilfe kommen, verweisen die Athener nur auf ihre Seeherrschaft und erwidern zynisch, dass die Melier „doch hoffentlich nichts von der in schmählichen und selbstverschuldeten Gefahren schon so oft den Menschen verderblichen ‚Ehre’ halten“. (Thuk. 5,104,1 u. 5,111,3) Hier spricht aus den Athenern die Pathologie des Krieges, die zu einer Umwertung aller Werte geführt hat und letztlich nichts weiter als reine, kalte Macht gelten lassen kann. Nachdem die Athener die Melier von ihrem Nutzen einer Unterwerfung nicht überzeugen konnten und diese weiterhin auf das Schicksal und die Lakedaimonier vertrauten, verwiesen die Athener wieder auf das Recht des Stärkeren und forderten zur Unterwerfung auf, „denn wer vor dem gleich Starken nicht zurückweicht, sich dem Mächtigeren gegenüber angemessen verhält und sich im Verkehr mit dem Schwächeren mäßigt, der fährt meistens am besten“. (Thuk. 5,111,4) Da die Melier dieser Rationalität nicht folgen wollten und sich einer kampflosen Unterwerfung widersetzten, brachen die Athener die Verhandlung ab, belagerten Melos bis es sich im Winter 416/15 ergab. Darauf wurde die Stadt erbarmungslos vernichtet. Die Athener „töteten alle erwachsenen Männer, die sei ergreifen konnten, die Kinder und Frauen verkauften sie in die Sklaverei“. (Thuk. 5,116,4) Mit der Eroberung und Vernichtung des inferioren Melos wurde die Tyrannis der Athener offensichtlich, doch war dieses Handeln nach Ansicht von Herfried Münkler und anderen jedenfalls entsprechend der Machträson rational.[6]So Herfried Münkler, Im Namen des Staates, S. 36, mit Verweisen auf: Joseph Vogt, Dämonie der Macht und Weisheit der Antike, in: Hans Herter (Hg.), Thukydides, Darmstadt 1968, S. 295; Gerhard … Continue reading
Anmerkungen
1 | Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf der 43. Münchner Sicherheitskonferenz 2007, . |
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2 | Ulf Poschardt: Putin hat keine Furcht vor dem Westen – weil wir so schwach geworden sind, Die Welt, 25.02.2022 |
3 | Raaflaub, Kurt: Politisches Denken im Zeitalter Athens, in: Iring Fetscher u. Herfried Münkler (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 1, Zürich 1988, S. 330. |
4 | Alexander Demandt, Der Idealstaat, Köln, Weimar u. Wien 1993, S. 65. |
5 | Nicolas Stockhammer, Das Prinzip Macht, Baden-Baden 2009, S. 95. Ebenso: Nicolas Stockhammer, Die Dialektik politischer Macht, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, 15. Jg., H. 1 (2006), S. 37. |
6 | So Herfried Münkler, Im Namen des Staates, S. 36, mit Verweisen auf: Joseph Vogt, Dämonie der Macht und Weisheit der Antike, in: Hans Herter (Hg.), Thukydides, Darmstadt 1968, S. 295; Gerhard Ritter: Dämonie der Macht und Weisheit der Antike – Eine Erwiderung, in: Hans Herter (Hrsg.), Thukydides, S. 24; Karl-Heinz Volkmann-Schluck, Politische Philosophie, Frankfurt a. Main 1974, S. 58. |