Der Titel der Limes 2/2022 kündigt eine Zeitenwende an: La Russia cambia il mondo (Russland verändert die Welt). Gemeint ist natürlich Russlands Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022, durch den sich die Welt verändert hat. Der Limes-Herausgeber Lucio Caracciolo stellt in seinem Editorial fest, dass wir noch nicht absehen können, wie sehr sie sich verändern wird. Noch ist nicht absehbar, wie der Krieg ausgehen wird und ob das Atomtabu fällt. Für Europa heisst es jedenfalls bereits jetzt: „Verführt von der ‚blumigen Rhetorik‘ eines Europas als ‚zivilisierte Macht‘ haben wir die Tatsache verdrängt, dass wir an einen Dschungel grenzen, der von Osten und Süden her vorrückt.“
Den Grund für den Ukraine-Krieg sieht Caracciolo in Russlands Bestreben, sich als Imperium bestätigt zu sehen. Dies ist eine Frage von Leben und Tod, denn ohne ein Imperium hat Russland keine Existenzberechtigung: „Geschichte, Geografie und Selbstbewusstsein verhindern, dass es zu einem Nationalstaat verkommt“ – dies müssen die Europäer begreifen, „die von den Amerikanern permanent verdummt werden“ (Caracciolo). Seit der Eroberung des Khanats von Kasan am 2. Oktober 1552 durch Iwan den Schrecklichen ist Russland ein multiethnisches Reich. Mit dem Abfall der Ukraine im Zuge des Unterganges der Sowjetunion wurde dieses Reich strategisch und symbolisch amputiert. Strategisch wegen des wichtigen Schwarzmeerhafens Odessa und symbolisch durch den Verlust von Kiew, der Wiege der Rus. Putin hat den Krieg gegen die Ukraine entfesselt, „um nicht als Zar in die Geschichte einzugehen, der sein Reich endgültig verloren hat“.
Putins Streben gilt der Wiederaufrichtung des Russischen Reiches, wie es vor 1917 bestand – nicht einem Wiederaufbau der Sowjetunion, „der jüdisch-bolschewistischen Abweichung vom imperialen Mandat“ (Caracciolo). Für Westler ist diese Motivation schwer zu verstehen. Das von der westlichen Propaganda stark vereinfachte Narrativ lautet: Im Kreml sitzt ein Verrückter, der die Ukraine um jeden Preis zurückerobern will. Wenn man ihn aufhält, dann wir alles wieder so sein, wie es zuvor war. – Aber wer sollte dies tun? Angesichts der Drohung eines atomaren Weltkriegs halten sich die Amerikaner und Westeuropäer zurück. Die Balten und Polen wollen auch nicht in die Bresche springen, schließlich sind sie der NATO beigetreten, um einen Schutzschirm zu haben, – nicht aber, um selbst der Schutzschirm des Westen zu sein. Es bleiben also nur die Ukrainer, die nun dazu aufgefordert werden, mit ihrem Kampf die alte Ordnung zu bewahren.
Betrachtet man die Situation von einem größeren zeitlichen Horizont aus, dann wird die Lage klarer: Der aktuelle Krieg ist nach Caracciolos Ansicht bereits der dritte Akt von Russlands imperialem Spiel mit der Ukraine in den letzten hundert Jahren. Stets ist sie im Zentrum des Kampfes zwischen Russland und seinem jeweiligen westlichen Widersacher – zunächst Deutschland, später die USA.
Am 3. März 1918 übergab Lenin die Ukraine an die Deutschen, um den Krieg zu beenden. 1922 wurde sie als Sowjetrepublik neu gegründet. Die zweite Runde fand im zweiten Weltkrieg statt. Seit dreißig Jahren steht die Ukraine nun zum dritten Mal zwischen Russland und dem Westen. Auch der aktuelle Konflikt wird sicherlich nicht der letzte sein. Caracciolo dann wörtlich: „Vielleicht warten sie auf eine Rückkehr zum klassischen Berlin-Moskau-Konflikt, wenn wir wirklich die Wiedergeburt des ‚geopolitischen Deutschlands‘ erleben, eine Revolution, die durch die Entscheidung von Bundeskanzler Scholz angekündigt wurde, 100 Milliarden Euro in die deutsche Wiederaufrüstung zu investieren und in den kommenden Jahren mehr als 2% des BIP für die Verteidigung auszugeben. Beerdigung des Merkelismus.“ – – Diese für deutsche Ohren ungewohnte Einschätzung des deutschen Potentials zeigt, dass man den Deutschen jenseits der Alpen noch einiges zutraut. Mehr als die Deutschen sich derzeit selbst zutrauen. – – Caracciolo resümiert: „Das Spiel von 1914 – die Auflösung, Teilung und schließliche Neuzusammensetzung der europäischen Reiche – ist immer noch im Gange. Die Ukrainer und Russen wissen etwas darüber.“
Abschließend gibt Lucio Caracciolo seine Einschätzung über die Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf Russland und die Ukraine, Europa und die Welt, jeweils für die Gegenwart, die nahe Zukunft der nächsten fünf Jahre und die fernere Zukunft in einem Jahrzehnt und später.
Für Russland deutet sich in der Ukraine ein kostspieliger taktischer Erfolg und eine strategische Niederlage an. Es behandelt die Ukraine dabei wie Syrien. Sie wird durch den Krieg womöglich gezwungen sein, zu einem russischen Protektorat zu werden. Dieser russische Sieg wäre jedoch teuer erkauft, denn die USA versuchen alles, „um die Überreste der Ukraine in ein europäisches Afghanistan zu verwandeln.“ Russland würde dadurch daran gehindert, die Ukraine als „Klein-Russland“ in sein Imperium einzugliedern. Wie es für Russland weitergehen soll, ist für Putin schrecklich ungewiß. Denn, so Caracciolo, „zum ersten Mal in der Geschichte spielen Raum und Zeit gegen Russland. Der Umgang mit einer besiegten Ukraine würde ihre Ressourcen irgendwann erschöpfen.“
Die gleiche Ungewißheit trifft auch die USA für den Fall, dass ihnen das Russische Imperium dann vor die Füße fallen sollte: „Was soll man damit machen? Es träge mit ihrem eigenen Imperium zusammenfassen, nachdem sie es in ein Dutzend Kleinrusslands zerlegt haben? Und würde Sibirien dann nicht an die Chinesen fallen?“
An der europäischen Front zeigt sich derzeit, dass das Sanktionspaket die nach wie vor großen kulturellen und interessenbedingen Unvereinbarkeiten zwischen den europäischen Nationen aufgedeckt hat.
Für China bedeutet der Krieg zunächst, dass der eurasische Landweg seiner Neuen Seidenstraße lahmgelegt ist. Xi Jinping bietet an, in dem Konflikt zu vermitteln. Auch, um Russland nicht durch dessen Abenteuer als Partner zu verlieren. China würde die kommenden Auseinandersetzung mit den USA um Taiwan nicht gern allein führen.
In Bezug auf Deutschland hat Lucio Caracciolo eine Einschätzung, die wiederum zeigt, dass man uns Deutschen scheinbar alles zutraut. Für ihn kommt es nun darauf an, ob Deutschland es übertreibt:
„Die hundert Milliarden, die Berlin bereitgestellt hat, um die ‚Bande aggressiver Camper‘ – so der englische Spitzname der Bundeswehr – in würdige Erben Moltkes zu verwandeln, haben für Washington einen bittersüßen Beigeschmack. Noch mehr gilt das für Paris – wo die militärische Vorherrschaft in Europa ein Dogma ist –, London und sogar Rom. Ganz zu schweigen von Warschau. Auf beiden Seiten des Atlantiks würden die Alliierten nicht gerne eines Tages die Bismarck-gesinnten Deutschen dabei erwischen, wie sie ihre frischen Divisionen auf der falschen Seite einsetzen.“
Man traut uns Deutschand also tatsächlich in Italien zu, im geeigneten Moment die Seiten zu wechseln. Hier könnte man Lucio Caracciolo jedoch höflich daran erinnern, dass dies in den letzten Weltkriegen stets die Spezialität Italiens war. Man kann ihm diesen Gedanken aber angesichts des nächsten Absatzes nicht übelnehmen, wo er schreibt:
„Schon bald könnten wir feststellen, dass von allen Umwälzungen, die stattfinden, die wichtigste für Italien und das übrige Europa die beschleunigte Rückkehr Deutschlands in die Geschichte ist.“
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In den weiteren 25 Artikeln dieser Limes-Ausgabe geben die Autoren ihre Einschätzungen über die Vorgeschichte des Krieges und seine Auswirkungen.
Hervorzuheben ist hier vor allem der Artikel von Andrew C. Kuchins mit dem Titel L’Ucraina paga anche gli sbagli dell’America (Auch die Ukraine zahlt für die Fehler Amerikas). Darin stellt er fest, dass Putin das Produkt der amerikanischen Hybris nach 1991 ist, welche Moskaus Ängste und Ansprüche genährt hat. Zu ihr gehörte auch die Erweiterung der NATO nach Osten – ausgreifend zur Ukraine und Georgien. Zudem wird festgestellt, dass die Rhetorik der NATO als „Verteidigungsbündnis“ durch deren Operationen außerhalb des Bündnisgebietes widerlegt wurde.
Ebenfalls äußerst interessant ist Giorgio Cuscitos Artikel La Cina no morirà per la Russia (China wird nicht für Russland sterben). Er meint, China wolle seinen Einfluß auf Russland als Hebel für die Verhandlungen mit den USA nutzen.
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