Am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine, am 24. Februar 2022, wird man sich in Kiew mit Bitterkeit an das Jahr 1994 erinnert haben. Damals unterzeichnete die Ukraine den Atomwaffensperrvertrag und übergab ihre gesamten Atomwaffen an Russland. Im Gegenzug verpflichteten sich die USA, Großbritannien und Russland im Budapester Memorandum vom 5. Dezember 1994, die Sicherheit und territoriale Integrität der Ukraine zu gewährleisten. Dass dieses Memorandum jedoch nicht das Papier wert ist, auf das es geschrieben wurde, zeigte sich bereits 2014, als Russland die Krim annektierte und die Garantiemächte USA und Großbritannien bis auf ein paar lauwarme Sanktionen nichts gegen Russland unternahmen.
Man kann wohl mit Sicherheit sagen, dass sich Putin zweimal überlegt hätte, die Ukraine anzugreifen, wenn diese immer noch – wie 1994 – die drittgrößte Atommacht der Welt wäre. Nach Erlangung ihrer Unabhängigkeit im Herbst 1991 befanden sich auf dem Territorium der Ukraine insgesamt 176 strategische Interkontinentalraketen mit zusammen 1.240 Atomsprengköpfen. Zudem verfügte sie über 592 atomar bewaffnete Cruise Missiles (ALCM), womit in der Ukraine insgesamt 1.832 strategische Nuklearsprengköpfe stationiert waren. Neben diesen verfügte sie noch über 3.000 taktische Atomwaffen.[1]Atomwaffen A-Z: Ukraine
Auch in Deutschland, wo viele auf einen sogenannten „atomaren Schutzschirm der USA“ vertrauen, sollte man aus dieser ukrainischen Lektion lernen. Wenn Russland Deutschland angreifen sollte und Artikel 5 des NATO-Vertrages aktiviert wird, ist kaum damit zu rechnen, dass amerikanische Interkontinentalraketen gen Russland gesandt werden. Unter den Atommächten gibt eine Art Gentlemens Agreement, wonach man den Atomkrieg auf dem Boden der Nicht-Atommächte austrägt – vorzugsweise Deutschland. Die Absurdität dieser Situation aus deutscher Sicht zeigt sich auch an der sogenannten deutschen „Teilhabe“ an amerikanischen taktischen Atomwaffen, die im Fliegerhorst Büchel gelagert werden. Im Konfliktfall sind sie dazu gedacht, den Vormarsch russischer Truppen auf deutschem Boden atomar zu stoppen. Deutsche Luftwaffe-Piloten trainieren also regelmäßig, wie sie amerikanischen Atomwaffen auf deutsche Städte werfen.[2]Bundeswehr probt den Atomkrieg-Ernstfall, n-tv, 13.10.2020. Tiefer kann ein Land sicherheitspolitisch nicht sinken.
Daher gilt in Abwandlung von Carl Schmitts berühmter Formel über den Souverän hinsichtlich der Souveränität eines Staates: Souverän ist, wer über eigene Atomwaffen verfügt.
Die Lehre, die jeder Staat aus dem russischen Überfall auf die Ukraine und Putins unverhohlener Drohung mit einem Atomschlag ziehen muss, lautet daher: Sicher ist man nur, wenn man über eigene Atomwaffen verfügt. Frankreich und Israel haben das verstanden. Deutschland sollte ihrem Beispiel folgen.
Gerade weil Deutschland keine eigenen Atomwaffen und damit auch keine eigene Fähigkeit zum atomaren Zweitschlag hat, wäre es für Russland das ideale Opfer eines atomaren Angriffs, der das Zweck hat, den Westen einzuschüchtern. Es ist daher wenig überraschend, das der französische Strategieexperte Oberst Pierre Servent meint, Putins Drohung mit dem Atomschlag würde sich vor allem gegen Deutschland richten.[3]„Putin will die Deutschen terrorisieren“, Die Welt, 04.03.2022
Anmerkungen
1 | Atomwaffen A-Z: Ukraine |
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2 | Bundeswehr probt den Atomkrieg-Ernstfall, n-tv, 13.10.2020. |
3 | „Putin will die Deutschen terrorisieren“, Die Welt, 04.03.2022 |