
Mitten im Atlantischen Ozean verlassen mehrere 20 Meter lange Torpedos ein russisches Atom-U-Boot. Mit eigenem atomaren Antrieb bewegen sie sich langsam in eintausend Meter Tiefe über tausende Kilometer auf den amerikanischen Kontinent zu, dann beschleunigen sie auf eine Geschwindigkeit, die jede Abwehr unmöglich macht, und bringen kurz vor der amerikanischen Küste die in ihnen befindlichen Atombomben zur Explosion, jede mit einer Sprengkraft von mehreren Megatonnen TNT. Riesige Wellen von radioaktivem Ozeanwasser, bis zu hunderte Meter hoch, vernichten daraufhin die amerikanischen Ostküstenstädte, darunter Boston, New York, Washington und Philadelphia. Zur gleichen Zeit wird auch die nordamerikanische Westküste mittels riesiger Wellen angegriffen, ebenso ausgelöst von russischen Atomtorpedos. Seattle, San Francisco, das Silicon Valley, Los Angeles und San Diego sind vollkommen ausgelöscht. Die beiden Machtzentren der USA existieren nicht mehr.
Dieses Szenario ist keine Science Fiction. Es ist der Ernstfall des russischen atomar angetriebenen und bewaffneten Torpedos Poseidon. Als Konzept gibt es diesen Typ einer nuklearen Unterwasserwaffe für den nuklearen Zweitschlag schon länger, doch erst jetzt hat man in der militärischen Führung der USA und der NATO realisiert, dass sie kurz vor der Einsatzbereitschaft steht und nicht nur ein Bluff von Wladimir Putin ist, wie lange vermutet wurde.
Die Fehleinschätzung, dass es sich bei dem atomar bewaffneten Torpedo lediglich um ein Mittel der psychologischen Kriegführung handeln würde, trug maßgeblich bei, wie Russland die Existenz dieser Waffe „geleakt“ hat. Am 9. November 2015 strahlte der russische Fernsehsender NTV einen Bericht über ein Treffen hochrangiger Offiziere aus, in dem die Kamera über die Schulter von einem der Teilnehmer blickte, welcher gerade ein Datenblatt über den atomaren Torpedo betrachtet, der damals noch die Bezeichnung Status-6 hatte.[1]NTV, 09.11.2015, www.youtube.com/watch?v=_FgPBGteLzU

Der U-Boot-Experte H. I. Sutton zeigt auf CovertShores detailliert, wie der Atomtorpedo in den folgenden Jahren immer wieder auf Satellitenfotos identifiziert wurde.[2]H.I. Sutton: Poseidon Torpedo, CovertShores, 22.02.2019, www.hisutton.com/Poseidon_Torpedo.html Im März 2018 stellt ihn das russische Verteidigungsministerium in einem Video vor – hier allerdings in den (nach H.I. Sutton unwahrscheinlichen) Szenarien des Angriffs auf einen Flugzeugträger und eines Direktangriffs auf die gegnerische Küste:
Zusammen mit der Veröffentlichung des Videos ließ das Verteidigungsministerium die Öffentlichkeit über den Namen bis dahin intern Status-6 (Nato-Code: KANYON) genannten Atomtorpedos abstimmen. Mit 36 Prozent setzt sich Poseidon (Посейдон) gegen Aurora (Аврора) und Sturzwelle (Прибой) durch.
Im Januar 2019 berichtete die russische Nachrichtenagentur TASS, dass der in der Erprobung befindliche Poseidon-Atomtorpedo über Superkavitation verfügen soll und damit eine Geschwindigkeit von bis zu 200 km/h (110 Knoten) erreichen.[3]TASS, Источник: стратегический подводный беспилотник „Посейдон“ получит скорость более 200 км/ч, 04.01.2019, … Continue reading H. I. Sutton sieht diese Aussagen jedoch als nicht glaubwürdig an. Auch die von russischer Seite behauptete atomare Sprengkraft von bis zu 100 Megatonnen TNT – doppelte so viel wie die Zar-Bombe – sieht er als übertrieben an und geht davon aus, dass sie bei 2 Megatonnen liegen wird. Zum Vergleich: die 1945 über Hiroshima abgeworfene Atombombe hatte eine Sprengkraft von lediglich 15 Kilotonnen TNT.
Einen Monat später, am 20. Februar 2019, veröffentlichte das russische Verteidigungsministerium ein Bild einer unbewaffneten Testversion des Poseidon.

Am 21. April 2021 erwähnte Russlands Präsident Wladimir Putin den Atomtorpedo in einer öffentlichen Rede. Er erklärte, dass an dem Projekt weiter gearbeitet werde. Auch Nils Andreas Stensønes, der Chef des norwegischen Geheimdienstes, bestätigte, dass sich das Poseidon-Projekt bereits in einer fortgeschrittenen Testphase befindet.

Mit dem atomar angetriebenen und bewaffneten Poseidon verfügt Russland künftig über eine Form der nuklearen Abschreckung, für die es bislang keinerlei Abwehrmöglichkeiten gibt. Der atomare Antrieb ermöglicht dem 20 Meter langen Torpedo, unbegrenzte Entfernungen zurückzulegen. Außerdem kann er als autonome Unterwasserdrohne eingesetzt werden. Es wäre so möglich, dass der Torpedo in großer Tiefe in einer Art „Schlafmodus“ verharrt und nach gewisser Zeit auf ein Signal oder eigener Programmierung hin aktiv wird.
Aufgrund des atomaren Antriebs und damit einer nahezu unbegrenzten Reichweite ist der Poseidon nicht darauf angewiesen, von einem U-Boot bis zur feindlichen Küste transportiert zu werden. Er kann an jeder Küste zu Wasser gelassen werden und dann den Weg zu seinem Ziel autonom zurücklegen. Insofern ist der Atomtorpedo zugleich eine interkontinentale Unterwasserdrohne.
Mit dem Poseidon zeigt Russland sein Bestreben, seine Verteidigung künftig vermehrt auf vollautomatisierten autonomen Waffensystemen aufzubauen. Dadurch soll eine effektive Abschreckung zu deutlich verringerten Kosten erreicht werden.
Anmerkungen
1 | NTV, 09.11.2015, www.youtube.com/watch?v=_FgPBGteLzU |
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2 | H.I. Sutton: Poseidon Torpedo, CovertShores, 22.02.2019, www.hisutton.com/Poseidon_Torpedo.html |
3 | TASS, Источник: стратегический подводный беспилотник „Посейдон“ получит скорость более 200 км/ч, 04.01.2019, https://tass.ru/armiya-i-opk/5974747 |