Wenn es so etwas wie einen Indikator für die Fitness einer Weltmacht gibt, dann ist es wohl Afghanistan. Nicht zu Unrecht bezeichnet man das Land in Zentralasien als „Friedhof der Imperien“: 1919 zog sich das Britische Empire nach 80-jähriger Besatzung aus Afghanistan zurück und erkannte dessen Unabhängigkeit an. Nach dem Ersten Weltkrieg fehlte den Briten die Finanz- und Willenskraft, sich dort weiter zu behaupten. Dieser Rückzug markierte den Beginn des Niedergangs des Britischen Weltreiches, das wenige Jahrzehnte später nahezu all seine Kolonien verlor.
Auch die UdSSR musste 1989 schmachvoll aus Afghanistan abziehen. In zehnjähriger Besatzungszeit war ihr nicht gelungen, das Land zu befrieden und nach sozialistischen Vorstellungen zu modernisieren. Einen wesentlichen Beitrag zum militärischen Scheitern der Sowjets leisteten die von den USA ausgebildeten und ausgerüsteten Mudschaheddin – zu denen auch Osama bin Laden gehörte. Nach Abzug der Sowjets versank Afghanistan im Chaos der Machtkämpfe zwischen einzelnen Warlords. Und auch hier war der Abzug aus Afghanistan ein Vorbote des Untergangs des sowjetischen Imperiums.
Nachdem 2001 Osama bin Laden und seine Al-Qaida-Organisation für den Anschlag vom 11. September verantwortlich gemacht wurden, intervenierten die USA in Afghanistan und besiegten die dort herrschenden Taliban, welche sich geweigert hatten, den sich dort befindlichen bin Laden auszuliefern. Nach dem Sieg über die Taliban und Al Qaida zogen die USA jedoch nicht ab und begründeten die weitere Präsenz des westlichen Militärs mit dem hehren Ziel, in Afghanistan einen demokratischen Rechtsstaat nach westlichem Vorbild etablieren zu wollen. Doch ebenso wie zuvor das sowjetische Modernisierungsprogramm scheiterte auch das amerikanische. Die hunderte Milliarden Dollar, die dazu eingesetzt wurden, trugen nicht zum Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen bei, sondern landeten größtenteils in den Taschen der hochkorrupten Zentralregierung in Kabul – zum Unmut des einfachen Volkes. Schlimmer war es noch in den ländlichen Regionen. Dort trugen die zivilen Kollateralschäden der amerikanischen Drohnen- und Spezialkräfteeinsätze dazu bei, dass den weiterhin widerständigen Taliban der Nachwuchs nicht ausging. Kurzum: Ebenso wie zuvor die UdSSR waren auch die USA und ihre Verbündeten daran gescheitert, Afghanistan vollständig zu unterwerfen.
Damit stellt sich die Frage, ob der Abzug des Westens aus Afghanistan ebenso als Vorbote des Untergangs des amerikanischen Imperiums anzusehen ist.
Abzug des Westens als historische Zäsur
Bereits im Mai 2021 bezeichnete der Berlin Politikwissenschaftler Prof. Herfried Münkler den Abzug des Westens aus Afghanistan als eine „historische Zäsur“.[1]Herfried Münkler: Der Abzug aus Afghanistan ist eine historische Zäsur, Neue Züricher Zeitung, 04.05.2021, … Continue reading Afghanistan war das Experimentierfeld für die Implementierung einer liberalen Weltordnung, so Münkler. Die Einführung westlicher Werte ist doch jedoch an der Beständigkeit der dortigen Traditionen und insbesondere der Religion gescheitert. Münkler resümiert: „Der Truppenabzug ist das Eingeständnis, dass sich der Westen mit dem Projekt einer liberalen Weltordnung überhoben hat. (…) Die liberalen Werte des Westens werden auf absehbare Zeit nur im Westen und in den ihm zugehörigen Räumen gelten. Die Idee einer globalen Ordnung mit gemeinsamen Werten ist definitiv aufgegeben worden – auch wenn sie in der Rhetorik der Nichtregierungsorganisationen nach wie vor bespielt werden wird. Bei den Militäreinsätzen an der Peripherie der westlichen Welt wird es hinfort nur noch umpolitische Stabilisierung und nicht mehr um menschenrechtliche Veränderungen gehen.“[2]Ebenda.
Betrachtet man, wie dilettantisch das sogenannte nation building in Afghanistan umgesetzt wurde, dann muß bereits bezweifelt werden, ob die Amerikaner dort tatsächlich die Absicht hatten, eine liberale Ordnung aufzubauen. Die von ihnen installierte Zentralregierung in Kabul zeichnete sich durch ein Ausmaß an Korruption aus, die das Land auf Platz 165 (von 180) brachte.[3]Transparency International: Korruptionswahrnehmungsindex 2020, https://www.transparency.de/cpi/. Dass die USA und ihre westlichen Verbündeten hier nicht eingriffen und die afghanischen Kleptokraten weiter Jahr für Jahr alimentierten ist nicht nur ein Verrat an den eigenen Steuerzahlern, sondern auch an den Afghanen, denen Rechtsstaatlichkeit versprochen wurde.
Auch die afghanische Armee, die seit 2001 mit über 100 Milliarden Dollar vom Westen aufgebaut wurde, erwies sich als Geldverschwendung und verstärkte die Ablehnung innerhalb der afghanischen Bevölkerung gegenüber den westlichen Besatzungsmächten. Unter anderem deshalb, weil ein Teil der Armeeführung den Sold vieler Soldaten unterschlug, was letztere dazu trieb, ihren Lebensunterhalt durch Überfälle auf die afghanische Zivilbevölkerung zu sichern. Auch dies war den westlichen Mächten bekannt, doch unternahmen sie nichts, um diese Zustände zu beseitigen. Die katastrophale Kampfkraft der afghanischen 300. 000-Mann-Armee – fast doppelt so groß wie die Bundeswehr – zeigte sich auch nicht erst beim ungehinderten Einmarsch der Taliban in Kabul. Manchen Einheiten hatten bereits zuvor eine Desertierungsrate von bis zu 90 Prozent.
Betrachtet man all dies, so hieße es, der Kriegspropaganda auf den Leim zu gehen, würde man meinen, den Amerikanern wäre es in ihrer Afghanistan-Politik tatsächlich um echtes nation building und die Durchsetzung westlicher Werte gegangen.
Die imperiale Strategie der USA
Eines vorweg: Würde es den USA tatsächlich um die Durchsetzung westlicher Werte gehen, so könnte es keine enge Zusammenarbeit des Westens mit dem fundamentalistisch-islamischen Saudi-Arabien geben. Worum es hingegen wirklich geht, verriet der ehemalige amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski in seinem Buch The Grand Chessboard von 1997. Höchstes Ziel der US-Politik ist danach die Sicherung der Vorherrschaft über die Welt. Um dies zu gewährleisten kommt es darauf an, Eurasien zu beherrschen. Das imperiale Gebot lautet nach Brzezinski: „keinen eurasischen Herausforderer aufkommen zu lassen, der den eurasischen Kontinent unter seine Herrschaft bringen und damit auch für Amerika eine Bedrohung darstellen könnte“. [4]Zbigniew Brzezinski: Die einzige Weltmacht, 8. Aufl., Frankfurt am Main 2004, S. 16.
Es geht also darum, alle potentiellen Anwärter auf die eurasische Herrschaft – vornehmlich China, Russland und Deutschland – daran zu hindern, diese zu erringen. Ein Schlüssel, um dies zu erreichen ist nach Brzezinski die Einflussnahme im sogenannten „eurasischen Balkan“, der sich vom Nahen Osten bis nach Zentralasien erstreckt. Da es aus kulturellen und ökonomischen Gründen unmöglich ist, dort verlässliche Vasallenstaaten zu etablieren, – wie sich exemplarisch in Afghanistan gezeigt hat – besteht die US-Strategie vor allem darin, in dieser Region Chaos zu stiften und dadurch die großen eurasischen Mächte zu schwächen.
In seinem Grand Chessboard erläutert Brzezinki, welche gewünschten Folgen eine „islamische Wiedererweckung“ in Zentralasien hat. Durch sie „dürfte der Prozeß der Islamisierung auch die innerhalb Rußlands verbliebenen Muslime anstecken.“[5]Ebenda, S. 194 Dies wiederum hat die Herausbildung einer eigenständigen religiösen und politischen Identität der russischen Muslime zur Folge, was wiederum Russland schwächen dürfte. Aktualisiert man diesen Gedanken von 1997 hinsichtlich des heutigen Hauptkonkurrenten der USA, so besteht die amerikanische Hoffnung, dass der Islamismus von Zentralasien auf die muslimischen Uiguren in China übergreifen könnte, wodurch auch dieser Konkurrent um die eurasische Herrschaft geschwächt würde. Gleiches gilt für Westeuropa, dass durch permanente Migration heute sogar einen weit höheren Anteil von Muslimen an der Gesamtbevölkerung hat, als China.
Dies ist jedoch bei weitem nicht der einzige Nutzen, den die USA aus dem 20-jährigen Krieg in Afghanistan ziehen konnten. Zunächst ließ sich durch ihn die Aufrechterhaltung eines hohen Militärbudgets begründen. Nach Angaben des amerikanischen Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (Sigar) kostete der Krieg in Afghanistan die USA insgesamt knapp 1.000 Milliarden Dollar, wovon 837 Milliarden Dollar für das US-Militär und 133 Milliarden für den zivilen Aufbau ausgegeben wurden.[6]Nikolai Thelitz und Alexandra Kohler: Wo die Billion Dollar geblieben ist, welche die USA in den Afganistan-Krieg gesteckt haben, Neue Zürcher Zeitung, 23.08.2021, … Continue reading Mit anderen Worten: der größte Teil der Ausgaben kam dem Militärisch-industriellen Komplex der USA zu Gute – finanziert von den Käufern von US-Schuldverschreibungen.
Nicht zu vernachlässigen ist auch ein anderer Gewinn, den die USA aus dem 20-jährigen Krieg zogen: Afghanistan war das hauptsächliche Trainingsfeld für neue Waffen und neue Taktiken der Aufstandsbekämpfung (Counterinsurgency). Hier konnte die USA zwei Jahrzehnte lang das Schwert ihrer Spezialeinsatzkommandos schärfen und den Drohnenkrieg perfektionieren.
Wenngleich die Bilder des chaotischen Abzugs der US-Botschaftsangehörigen aus Kabul den Eindruck macht, die USA hätten den Afghanistan-Krieg verloren, ist dies bei nüchterner Betrachtung nicht der Fall. Sie haben aus dem 20-jährigen Militärmission viele Vorteile gezogen.
Deutschland als nützlicher Idiot
Für Europa und insbesondere Deutschland läßt sich das jedoch nicht sagen. Daher ist es auch richtig, wenn Herfried Münkler angesichts des Afghanistan-Abzugs des Westens von einem „spezifisch deutschem Scheitern“ spricht, denn „die normative Aufrüstung des Afghanistan-Einsatzes – vom Brunnenbau bis zum Kampf für Frauenrechte – war insbesondere ein deutsches Projekt“.[7]Herfried Münkler zum Afghanistan-Desaster: „Es gibt ein spezifisch deutsches Scheitern“, Handelsblatt, 20.08.2021, … Continue reading Während die Amerikaner das Narrativ des nation building vornehmlich als Legitimationsmittel nutzten, um ihre 20-jährige Besetzung Afghanistans zu rechtfertigen, haben die Europäer und insbesondere die Deutschen tatsächlich an die Realisierbarkeit einer Umgestaltung Afghanistans in eine liberale Demokratie geglaubt. Dieses Fehldenken lässt sich nicht allein mit der mangelnden außenpolitischen Erfahrung der deutschen Eliten erklären – Deutschland hat seit 1918 keine eigene Kolonialpolitik – sondern kann nur durch ein Überschießen der amerikanischen Reeducation nach 1945 erklärt werden. Der Glaube, alle Welt wolle nichts sehnlicher, als in einem auf westlichen Werten beruhenden Staat zu leben, verkennt die Macht der gewachsenen Traditionen und Wert der eigenen kulturellen Prägung.
Vielleicht hätte die deutsche Regierung sich nur einmal in Berlin oder dem Ruhrgebiet umschauen müssen, wo die deutsche Migrationspolitik am deutlichsten gescheitert ist. Wenn selbst die meisten muslimischen Migranten in Deutschland nicht die westlichen Werte annehmen wollen, wie kann man dies dann von den Afghanen erwarten.
Lenin wird – wahrscheinlich fälschlich – die Prägung des Begriffs des „nützlichen Idioten“ zugeschrieben. Man kann wohl keinen besseren Begriff finden, wenn man beschreiben will, was Deutschland aus der Sicht des US-amerikanischen Imperiums ist: ein nützlicher Idiot. Im guten Glauben an die hehren Ziele der Mission opferten die Deutschen dutzende Milliarden Euro[8]Afghanistan-Einsatz kostet bis zu 47 Milliarden Euro, Die Welt, 26.05.2010, https://www.welt.de/politik/deutschland/article7793359/Afghanistan-Einsatz-kostet-bis-zu-47-Milliarden-Euro.html und das Leben von 53 Bundeswehrsoldaten.[9]Statista: In Afghanistan gefallene Bundeswehrsoldaten von 2002 bis 2021 (Stand: August 2021), https://de.statista.com/statistik/daten/studie/153902/umfrage/in-afghanistan-gefallene-bundeswehrsoldaten/ Die Deutschen bauten in Afghanistan Brunnen und Schulen, bildeten die afghanischen Streitkräfte aus und verbreiteten dort das, was sie für westliche Werte halten, etwa indem sie u.a. für 2 Mio. Euro ein Projekt zum Gender Mainstreaming förderten.[10]https://twitter.com/krk979/status/1427224200339656715 Nicht genug damit, nahm Deutschland in den letzten Jahren auch noch eine Viertelmillion Afghanen auf, versorgt sie seither mit geschätzt mindestens 5 Mrd. Euro jährlich und erträgt deren überdurchschnittliche Kriminalität.
Die unweigerlichen Folgekosten des jetzigen Abzugs des Westens aus Afghanistans dürfte wohl auch zu einem großen Teil Deutschland zu tragen haben. Bundesinnenminister Horst Seehofer schätzte die Anzahl der Afghanen, die das Land verlassen wollen auf fünf Millionen.[11]Taliban-Machtübernahme in Afghanistan: Seehofer erwartet bis zu fünf Millionen Flüchtlinge, Stuttgarter Zeitung, 16.08.2021, … Continue reading Die Entwicklungshelferin Sybille Schnehage geht davon aus, dass sich in nächster Zeit bis zu drei Millionen auf den Weg nach Europa machen werden, wovon die meisten nach Deutschland kommen wollen.[12]Interview mit Sybille Schnehage, WDR, 08.08.2021, https://www1.wdr.de/nachrichten/afghanistan-kundus-taliban-entwicklungshilfe-100.html In Abwandlung eines Peter Scholl-Latour zugeschriebenen Zitates läßt sich dazu sagen: „Wer halb Afghanistan aufnimmt, hilft nicht Afghanistan, sondern wird selbst zu Afghanistan.“
Das Ende des amerikanischen Imperiums
Man kann Abzug des Westens aus Afghanistan nicht nur wie Herfried Münkler als historische, sondern auch als geopolitische Zäsur ansehen. Denn allem Anschein nach ist wieder ein Imperium am Afghanistan-Test gescheitert.
In den Augen der Weltöffentlichkeit ist der Rückzug der USA aus Afghanistan der Ausweis einer Niederlage. Die Hubschrauberevakuierung von Botschaftsmitarbeitern in Kabul erinnert fatal an die Evakuierung 1975 in Saigon. Afghanistan gilt als neues Vietnam der USA. Dies ist zunächst ein Prestigeverlust, den sich eine imperiale Macht nicht leisten kann. Ebenso schlimm für sie ist der Glaubwürdigkeitsverlust bei Verbündeten und Neutralen. Die dilettantische Durchführung des Nation-building-Projektes und dessen jetziger Abbruch wird in Taiwan und dem Baltikum zu Fragen führen, ob ihnen die USA im Konfliktfall beistehen werden.
Mit dem damit verbundenen Verlust von Soft Power werden die USA noch mehr als zuvor auf Hard Power setzen – auf ihre Geheimdienste und deren Cyberüberlegenheit, auf den Einsatz ihrer Special Forces in verdeckten Kriegen und nicht zuletzt auf die Sanktionswaffe, basierend auf der Leitwährung Dollar und den amerikanischen Hightech-Monopolen. Wehrlos sind die USA nämlich keineswegs. Doch ohne die Legitimierung dieser Macht durch Soft Power werden die USA mehr und mehr als das erkannt, was sie schon lange sind, sich aber nicht eingestehen wollen: ein Raubstaat, der unverhohlen die Vorherrschaft über die ganze Welt beansprucht und für den es nur Feinde oder Vasallen gibt.
Es wird in den nächsten Jahren wohl nicht zu einem so schnellen Zusammenbruch des amerikanischen Imperiums kommen wie 1989-1991 im Fall des sowjetischen. Vielmehr wird es ähnlich dem britischen Empire langsam zerfallen. Die europäischen Vasallen werden sich zunehmend emanzipieren, ebenso die asiatischen. Das Netz der US-Militärbasen wird sich zunehmend auflösen, der Dollar seinen Status als Weltleitwährung und die US-Digitalkonzerne ihren Zugriff auf die weltweiten Daten verlieren. Die USA werden dann noch immer eine der fünf großen Mächte der Welt sein, aber nicht mehr die dominante Weltmacht, die sie heute ist.
Afghanistan wird dann auf das nächste Imperium warten, das sich an ihm austestet. Das letzte, das diesen Test bestand, war das Mongolische Reich unter Dschingis Khan im 13. Jahrhundert.
Anmerkungen