Der Titel der Limes 1/2021 knüpft an die Ausgabe 11/2020 an, die den inneren Zustand der USA betrachtete und einen Sturm über dem Land sah (Tempesta sull’America). Die neue Ausgabe untersucht den Zustand des amerikanischen Imperiums und sieht auch dieses im Sturm stehen (L’imperio nella tempesta). Die Erstürmung des Capitols durch aufgebrachte Trump-Anhänger am 6. Januar 2021 sieht Limes als Verschärfung der amerikanischen Krise, die Freund und Feind gleichermaßen anlockt, wie es im Untertitel der Ausgabe heisst (L’assalto al Campidoglio squaderna la crisi americana ingolosendo nemici e amici).
Das Editorial des Limes-Direttore Lucio Caracciolo zeigt wieder einmal, warum die Rivista Italiana di Geopolitica nach meiner Einschätzung die derzeit weltweit beste Zeitschrift für Geopolitik ist. Mit einer für deutsche Leser ungewohnten Offenheit analysiert er den gegenwärtigen Zustand des amerikanischen Imperiums, erinnert an dessen Anfänge und gibt einen Ausblick auf seine nahe Zukunft.
Die USA sieht er zunächst vor einer schwierigen Wahl: zuerst die Nation oder zuerst das Imperium? Ein tiefer Riss geht durch das Land, welcher das Potential hat, auf Dauer beides zu gefährden, Nation und Imperium. Der 6. Januar 2021, der Sturm auf das Capitol, ist für Caracciolo eine Wegscheide. Davor konnte man meinen, Nation und Imperium seien dasselbe. Nun zeigt sich, dass der brüchige Zustand der Nation das Imperium ins Wanken bringen kann. Der Grund liegt darin, dass das amerikanische Imperium ein geopolitisches Paradoxon par excellence ist. Die amerikanische Nation ist auf einem radikalen Individualismus gegründet worden, der einem starken Gewaltmonopol prinzipiell feindlich gegenübersteht. Ebenso eigentümlich ist das Imperium, das daraus hervorging. Es besitzt keine festen und definierten Grenzen, es ist immer beweglich. Und es leugnet unaufhörlich, ein Imperium zu sein. Eng verbunden mit Nation und Imperium ist ein „systemischer Rassismus“, unter dem Caracciolo die noch immer starke Identifikation Amerikas als weiße Nation versteht. Dies will er aber nicht auf die alten Konflikte zwischen Schwarzen und Weißen der Südstaaten reduziert sehen. Vielmehr merkt er an, dass der Hass der vergessen Weißen gegenüber den hochnäsigen Eliten wahrscheinlich größer ist, als der, den schwarze Sklaven gegenüber ihren Herren empfanden. In diesem immanenten Rassismus sieht er ein Problem, denn man kann kein „globales“ Imperium sein, wenn man nur eine Rasse verkörpert. Als Gegenbeispiel führt er das Alte Rom an, welches farbenblind war. – Vielleicht mit einer Ausnahme: die sehr großen, sehr weißen, sehr blonden, blauäugigen Germanen galten als nicht integrierbar. – Trotz aller tiefen inneren Konflikte ist Amerika aber noch immer ein Imperium – und die einzige Macht, die es derzeit zu Fall bringen kann, ist es selbst.
Um sich eine Vorstellung von der nahen Zukunft des amerikanischen Imperiums zu machen, blickt Caracciolo in dessen Vergangenheit und unterteilt diese in vier Phasen. Von 1776 bis 1865 entstand aus 13 unabhängigen Kolonien die amerikanische Nation, eine Entwicklung die mit dem Sieg der Nordstaaten im Sezessionskrieg abgeschlossen war. Von 1866 bis 1945 wuchs diese Nation und gewann zwei mal in einem Weltbürgerkrieg. Von 1946 bis 1991 dauerte die Zeit der bipolaren Supermächte, in der die Sowjetunion als absoluter Gegner den amerikanischen Griff auf seine imperiale Sphäre in Europa und Asien ermöglichte, welche es nach dem Untergang der Sowjetunion noch stark erweitern konnte. 1992 begann schließlich die „globale“ Phase des amerikanischen Imperiums. Seine Eliten glaubten von nun an, das amerikanische System sei allen anderen überlegen, sie wähnten die Welt am Ende der Geschichte.
Doch die US-Eliten erwiesen sich damit nach Caracciolos Einschätzung als unreif. Sie waren nicht in der Lage, die Satelliten ihres Imperiums einzubinden. Als Beispiel für diese Unfähigkeit nennt er das Verhalten gegenüber Deutschland: Wenn die USA verlangen, dass es 2 Prozent seines BIP für den Aufbau einer echten Armee ausgibt, dann können sie nicht erwarten, dass die Deutschen ihnen diese Armee wieder kostenlos zur Verfügung stellen. Caracciolo resümiert: Der Hegemon lebt in einem permanenten Netz von instabilen Beziehungen und Konkurrenzen. Er muss Freunde und Feinde einbeziehen. Freunde beauftragt er mit der Verwaltung eines Teils des Imperiums, Feinde werden bekämpft, aber nicht vollständig zerstört. Denn die totale Zerstörung einer feindlichen Großmacht schafft mehr Probleme als Nutzen. Eine imperiale Macht, die selbstsüchtig ist, die nicht in der Lage ist, ein Gleichgewicht der Kräfte herzustellen, wird untergehen. Der Sturm, in dem das amerikanische Imperium heute steht, ist eine direkte Folge dieses Unvermögens der amerikanischen Eliten. Die Zukunft des amerikanischen Imperiums ist nach Caracciolos Einschätzung eng mit dessen Entstehung verknüpft, weshalb er diese nochmals in Erinnerung ruft.
Die Geburt des amerikanischen Imperiums erfolgte im Sommer 1940. Damals, im Angesicht des deutschen Sieges über Frankreich, beschlossen die amerikanischen Eliten, dass die Vereinigten Staaten ein Weltreich werden müssen, um Deutschland daran zu hindern, eines zu werden. Die Vorarbeiten zu diesem Entschluss begannen bereits im Herbst 1939, als Präsident Roosevelt in Zusammenarbeit mit dem Council of Foreign Relations das Geheimprojekt War and Peace Studies (kurz: War and Peace) gründete. Dessen Aufgabe war, einen Masterplan für ein amerikanisches Imperium zu erstellen. In zahlreichen Treffen und Memoranden an das Außenministerium wurden Strategien entwickelt und Ziele definiert. – Darunter Pläne für eine amerikanische Besetzung von Deutschland, die bereits vor der deutschen Kriegserklärung ausgearbeitet worden waren, und eine Notiz über die strategische Bedeutung von Grönland. – In diesen Beratungen des War-and-Peace-Kreises wurde das geopolitische Paradigma entwickelt, welches das sich entwickelnde amerikanische Imperium fortan leiten sollte. Caracciolo skizziert es in fünf Punkten:
1. Auf der Welt gibt es nur Platz für eine Supermacht, die USA. Bündnisse und internationale Organisationen sind lediglich Masken, die der Hegemon nutzt. Durch sie gewinnt er materielle Ressourcen und internationale Legitimität. Die Monroe-Doktrin wird auf die ganze Welt ausgeweitet, welche indirekt kontrolliert werden soll.
2. Der Feind sind Deutschland und Japan. Das Konzept der Eindämmung (Containment) wurde in der Auseinandersetzung mit Deutschland geboren, erst später wird es auf die Sowjetunion und China angewendet. Die amerikanische Germanophobie endete auch nicht mit dem Untergang des Dritten Reichs. Das Misstrauen gegenüber dem neuen „Verbündeten“ zeigte sich deutlich in einem Ausspruch von US-Außenminister Dulles, der 1958 sagte, dass ihm ein geteiltes Deutschland lieber ist als ein neutralisiertes ungeteiltes Deutschland. Die Lektion, die Caracciolo daraus für die gegenwärtige Situation ableitet, lautet: „Es ist Deutschland, nicht Russland, dass der potentielle Dreh- und Angelpunkt des eurasischen Kerns ist, und das in Übereinstimmung mit China die Vorherrschaft Amerikas bedrohen kann.“
3. Das amerikanische Imperium absorbiert das britische Imperium. Es folgt seiner maritimen Matrix und beherrscht über strategische Engpässe die Seewege, durch welche es die Rohstofftransporte kontrolliert. In einem ersten Schema werden vierzehn imperiale Dreh- und Angelpunkte identifiziert, die in einem transkontinentalen Netzwerk verbunden werden, welche sich über die ganze Welt erstreckt und auf Washington zentriert ist.
4. Das britische Commonwealth als Stütze des amerikanischen Imperiums ergibt sich aus strategischen, rassischen und ideologischen Einschätzungen. Das Britische Empire war schon immer antieuropäisch, es war seit dem Ende des 19. Jahrhunderts daher Anti-Deutschland. Die Anglosphäre ist das Rückgrat der von der Biden-Administration diskutierten Liga der Demokratien. Es ist, so Caracciolo, eine antideutsche und antieuropäische Machtstruktur.
5. Die Vereinten Nationen sind Bestandteil des amerikanischen Imperiums. Die Gründung der VN war ein sekundärer Teil der amerikanischen Entscheidung, eine globale politisch-militärische Vorherrschaft anzustreben. Dem ersten Emblem der Vereinten Nationen ist diese Zentrierung auf die USA deutlich eingeschrieben. Später wurde es geopolitisch korrigiert.
Ausgehend von diesen Gründungsparadigmen des amerikanischen Imperiums skizziert Lucio Caracciolo dessen voraussichtliche Entwicklung in den nächsten Jahren. Die Hauptaufgabe der USA sieht er darin, das Ansehen des Hegemons bei Freund und Feind wiederherzustellen, welches durch die innenpolitischen Konflikte und das Versagen in der Bewältigung der Covid-19-Krise stark gelitten hat. Das Programm „Making U.S. Foreign Policy Work better for the Middle Class“ von Jake Sullivan, Bidens Nationalem Sicherheitsberater, ist nach Caracciolos Einschätzung ein Versuch einer „sozialen Geopolitik“.[1]S. Ahmed, R. Engel, W. Cutler, D. Lute, D.M. Price, D. Gordon, J. Harris, C. Smart, J. Sullivan, A.J. Tellis, T. Wyler, „Making U.S. Foreign Policy Work Better for the Middle Class“, … Continue reading In diesem Programm gibt Sullivan indirekt zu, dass es die Schuld der US-Administration war, dass sich seine Verbündeten derzeit auf halbem Wege zwischen den USA und China halten.
Hinsichtlich der Konkurrenz mit China sieht Caracciolo bei den USA eine Änderung des Kurses, ohne das grundlegende Ziel aufzugeben, sich gegen den strategischen Rivalen durchzusetzen. Der neue Kurs wird ein Mittelweg zwischen der sanften Eindämmung der Obama-Administration und dem Versuch eines Regimewechsels der Trump-Administration sein.[2]www.nationalinterest.org/feature/mike-pompeo-just-declared-america%E2%80%99s-new-china-policy-regime-change-165639
Das Verhältnis zu Russland wird durch die innerrussische Instabilität geprägt. Noch ist in Washington nicht entschieden, ob es einen bewaffneten Waffenstillstand mit China eingehen will, um mit Russland abzurechnen, wo ein Regimewechsel nicht unmöglich ist.
Der europäische Bereich innerhalb des amerikanischen Imperiums hat durch die Trump-Administration tiefe Risse bekommen. Frankreich sieht in dieser Situation die letzte Chance, ein „souveränes Europa“ zu erreichen, in dessen Zentrum sich Frankreich und die Mittelmeerstaaten befinden sollen. Deutschland ist nach Caracciolos Einschätzung nicht mehr auf Amerika angewiesen und beschleunigt seinen Wiedereintritt in die Geschichte. Es bestätigt damit den Verdacht der Amerikaner, dass es Europa dominieren und sich Russland und China annähern will. Man solle sich in Bezug auf Deutschland auf einen Ausspruch von Joe Biden am 9. Mai 1990 erinnern, als er in einer Senatsanhörung über die Zukunft der NATO erklärte, es sei ihm lieber, die sowjetische Armee bliebe weiterhin in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei stationiert, als die amerikanische Militärpräsenz in Deutschland aufzugeben.[3]The Future of Europe, Hearings before the Committee on Foreign Relations and the Subcommittee on European Affairs of the United States Senate, The Future of NATO, 9. Mai 1990, S. 598, … Continue reading Italien steht nun vor seiner Reifeprüfung. Es müsse endlich seine nationalen Interessen vertreten und sollte danach streben, auf einer kleinen, aber wichtigen, Seite im Dreieck mit Deutschland und Frankreich zu stehen. Würde Italien schweigen und seine Ansprüche nicht selbstbewußt vertreten, so würde es weiterhin von den USA dominiert werden und dafür einfach nichts erhalten.
Der weitere Inhalt der neuen Limes gliedert sich in drei Teile. Im ersten wird erörtert, was aus der amerikanischen Marke geworden ist. Der zweite befasst sich mit dem Verhältnis der USA zu Russland und China. Im dritten Teil wird das Verhältnis der USA zu Europa und dem Nahen Osten analysiert. Aus deutscher Sicht ist hier vor allem der Aufsatz von Luca Steinmann über Deutschland von Interesse.
Schon die Überschrift des Artikels zeigt die neue Art des Umgangs zwischen Deutschland und Amerika: „La Germania fa la morale all’America“ (Deutschland nimmt gegenüber Amerika eine moralische übergeordnete Position ein). Darunter versteht der Deutschlandkenner Steinmann eine von Angela Merkel erfundene eigenartige Version von Geopolitik, mit der sie die USA auf der Ebene der Werte herausfordert. Begleitet von einem zunehmenden Misstrauen der öffentlichen Meinung in Deutschland gegenüber den USA (82 Prozent wünschen sich eine neutrale Position im amerikanisch-chinesischen Konflikt) ist dies nach seiner Ansicht ein vorsichtiger erster Schritt eines vollständigen deutschen Wiedereintritts in die Geschichte. Deutschland soll wieder ein vollwertiges geopolitisches Subjekt werden. Damit wird jedoch der große Alptraum der USA wiedererweckt, der darin besteht, dass Deutschland sich einen eigenen Raum geopolitischen und geoökonomischen Einflusses in Europa schaffen kann, der eine potenzielle Einigung mit China und Russland nährt. Dies zu verhindern ist das vornehmliche Bestreben der US-Eliten, die sich nun nach zwei Weltkriegen und einem kalten Krieg, in dem die Deutschen unterlegen waren, fragen müssen, ob sie nun wieder am Anfang stehen.
Mit der Kapitulation der Wehrmacht 1945 wurde Deutschland neutralisiert und aus seiner Geopolitik, seinem Zustand als Landmacht, entwurzelt. Es wurde damit auch in seiner Entwicklungsmöglichkeit gebremst. Denn durch seine Geographie – eine Alpenbarriere im Süden, ein Meer im Norden und die Seemächte USA und Großbritannien im Westen – hat Deutschland historisch eine Berufung, sich nach Osten zu projizieren, sei es durch Krieg oder Handelsbeziehungen. Der natürliche Anknüpfungspunkt für Deutschland ist dabei Russland, ebenfalls eine Landmacht. Ein Konflikt mit Russland lässt sich nach Otto von Bismarcks Lehre durch die Betonung gemeinsamer – und dem Westen fremder – Wurzeln und gemeinsamer wirtschaftlicher Interessen abwenden.
Die amerikanische Neutralisierung Deutschlands erfolgte in mehrfacher Weise, so Steinmann. Zunächst durch die Teilung seines Territoriums, dann durch die Schaffung eines Verfassungssurrogats in seinem westlichen Teil, welches den Zwängen des Besatzungsstatuts der Alliierten Rechnung trug. Schließlich durch drei von den USA geschaffene deutsche Geheimdienste und die massive Präsenz amerikanischer Militärstützpunkte. Die formale Wiederherstellung der deutschen Souveränität im Zuge der deutschen Wiedervereinigung änderte daran nur wenig. Es gab keine neue Verfassung, keine Stärkung der Bundeswehr, keine Geheimdienstreform und auch keinen Abzug der US-amerikanischen Truppen aus Deutschland. So blieb die Souveränität des vereinten Deutschlands im Rahmen des amerikanischen Imperiums stark eingeschränkt und in Übereinstimmung mit den geopolitischen Prioritäten der USA, die auf die Eindämmung des deutschen „Verbündeten“ ausgerichtet sind. Lediglich eine globale wirtschaftliche Expansion innerhalb des US-imperialen Raumes wurde Deutschland zugestanden, solange es auf strategisches Denken verzichten würde.
Eine solche Beschreibung der gegenwärtig noch immer eingeschränkten deutschen Souveränität wie hier von Luca Steinmann findet man in deutschen politischen Publikationen nur selten. Ebensowenig eine vergleichbare Einschätzung des Konfliktes mit den USA in jüngster Zeit, der mehr ist als eine Auseinandersetzung über Exporte und Zölle.
Bereits mit der deutschen Wiedervereinigung zeichneten sich nach Beobachtung von Steinmann strategische Differenzen im Verhältnis zu den USA ab. Bundeskanzler Schröder verweigerte 2003 eine Teilnahme am Irak-Krieg und vereinbarte mit Russlands Präsident Putin die Errichtung von Nord Stream, eine direkte Gaspipeline zwischen ihren beiden Ländern. Die deutsche Großindustrie nutzte den Fall des Eisernen Vorhangs zu einer Expansion nach Osten und erfüllte damit die deutsche Berufung. Im Zuge dieser Entwicklung war es nur folgerichtig, dass China im Jahr 2016 gemessen an der Summe von Exporten und Importen zum wichtigsten deutschen Handelspartner wurde. Den USA war bereits im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 bewußt geworden, dass durch diese die deutsche Führungsrolle in Europa begünstigt und ein Eckpfeiler der amerikanischen Geopolitik bedroht ist. Es ist daher für Steinmann kein Zufall, dass sich unter der Obama-Administration die amerikanischen Angriffe auf die deutsche Politik und Wirtschaft vervielfachten. Angefangen bei der Verurteilung der (im deutschen Sprachgebrauch positiv konnotierten) deutschen „Sparpolitik“ als (negativ konnotierte) „Austerität“ durch Obama, über die von Edward Snowden aufgedeckte Spionage gegen Deutschland bis hin zur Dieselgate-Affäre. Während der Trump-Administration setzte sich die Auseinandersetzung fort, wenngleich viele seiner Drohungen nur auf Papier geblieben sind und nicht umgesetzt wurden. Trumps Rhetorik trug jedoch dazu bei, das überkommene Image des überseeischen „Beschützers“ zu beschädigen und die amerikanische imperiale Legitimation in Frage zu stellen.
Was nun nach Beobachung von Steinmann in Deutschland stattfindet, ist ein Kampf zwischen den alten proamerikanischen Kräften und jenen, die für nationale deutsche Interessen eintreten. Zu letzteren zählt er die AfD, welche vor allem davon profitiert, dass viele Ostdeutsche sich der postnationalen und proamerikanischen Ideologie der Westdeutschen verweigern. Dass die AfD derzeit unter großem Druck des deutschen Inlandsgeheimdienstes steht, hat nach Steinmanns Ansicht seine Ursache darin, dass dieser auch dafür verantwortlich ist, die Verankerung Deutschlands in der amerikanisch geführten westlichen Welt zu bewahren. In der CDU zeigte sich die Auseinandersetzung zwischen proamerikanischen und zumindest partiell national ausgerichteten Kräften bei der jüngsten Wahl des Parteivorsitzenden. Gegen den hyperatlantischen Norbert Röttgen und den atlantisch orientierten Friedrich Merz konnte sich schließlich Armin Laschet durchsetzen, der eine Kontinuität des Merkelismus sicherstellt. Merkels Linie bestand bislang darin, sich nicht festzulegen und die Entscheidung über eine geopolitische Positionierung Deutschlands hinauszuschieben. Es ist ein sowohl als auch, ein Festhalten an der Zugehörigkeit zum amerikanischen Imperium bei gleichzeitiger Kooperation mit Russland (Nord Stream 2) und China (Europäisch-chinesisches Investitionsabkommen) in ökonomischen Fragen.
Wenngleich Merkel also eine klassische geopolitische Positionierung aufschiebt, hat sie wie eingangs erwähnt, eine „neue Geopolitik“ entwickelt. Diese besteht in einem mit ihrer Person verbundenem Bild von Deutschland als dem größten globalen Förderer liberaler und demokratischer Werte, welches den USA das moralische Primat stiehlt. Dies ist, so Steinmann, ein beispielloser Rollentausch zwischen dem Zentrum und der Peripherie des amerikanischen Imperiums. Die neue deutsche moralische Überlegenheit gegenüber den Amerikanern wurde von Merkel immer wieder betont. So etwa, als sie im August 2020 damit drohte, die Nord Stream 2-Pipeline in Frage zu stellen. Die USA hätten demgegenüber im Traum nicht daran gedacht, nach der Ermordung von Jamal Khashoggi die Öl-Importe aus Saudi-Arabien einzustellen. Was Steinmann als geomoralische Strategie versteht, könnte allerdings auch lediglich Naivität sein. Dass es jedenfalls nicht ohne die klassischen Attribute der Geopolitik geht, weiss Steinmann auch, wenn er schreibt, dass Deutschland solange kein vollendetes geopolitisches Subjekt sein wird, solange es seine militärische Impotenz nicht kuriert. Das gegenwärtige Substituieren von harter Macht durch weiche Macht (Menschenrechte) zeigt nach seiner Ansicht, dass wir in eine Zwischenphase der deutschen Geschichte eingetreten sind. Aber, so Steinmanns Schlusssatz, früher oder später wird Deutschland mit der Geopolitik, wie sie gemeinhin verstanden wird, rechnen müssen, auch wenn manche in Berlin gehofft hatten, die Geschichte sei vorbei.
Anmerkungen
1 | S. Ahmed, R. Engel, W. Cutler, D. Lute, D.M. Price, D. Gordon, J. Harris, C. Smart, J. Sullivan, A.J. Tellis, T. Wyler, „Making U.S. Foreign Policy Work Better for the Middle Class“, Washington D.C. 2020, Carnegie Foundation for International Peace, www.carnegieendowment.org/files/USFP_FinalReport_final1.pdf |
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2 | www.nationalinterest.org/feature/mike-pompeo-just-declared-america%E2%80%99s-new-china-policy-regime-change-165639 |
3 | The Future of Europe, Hearings before the Committee on Foreign Relations and the Subcommittee on European Affairs of the United States Senate, The Future of NATO, 9. Mai 1990, S. 598, play.google.com/books/reader?id=-Se9z_9F2UUC&hl=it&pg=GBS.PA598 |