Die amerikanischen Präsidentschaftswahlen im November 2020 haben gezeigt, wie sehr das Land innerlich zerrissen ist. Wie tiefgreifend die Spaltung mittlerweile ist, verdeutlicht eine Aussage von Allen West, dem Vorsitzenden der republikanischen Partei in Texas, der angesichts der Nichtannahme einer Klage des texanischen Staates durch den Obersten Gerichtshof der USA sogar eine Sezession einiger Bundesstaaten in Erwägung zog.[1]www.texasgop.org/chairman-allen-wests-response-to-scotus-decision/
Ob die USA in den nächsten Jahrzehnten in der heutigen Form bestehen bleiben, ist keineswegs sicher. Der russische Geopolitiker Alexander Dugin sieht in Amerika einen unlösbaren Konflikt zwischen den Küsten, welche die Mentalität einer Seemacht haben, und dem Landesinneren, dass sich als Landmacht fühlt.[2]www.geopolitica.ru/article/geopolitika-amerikanskih-vyborov In den Präsidentschaftswahlen wurde dieser Konflikt personalisiert durch Donald Trump, dem Vertreter der bodenständigen Bewohner des amerikanischen Heartland, und Joe Biden, dem Vertreter der globalistischen Küstenbewohner.
Eine differenziertere Unterteilung der USA, genauer von ganz Nordamerika, unternahm Joel Garreau 1979 in einem Artikel in der Washington Post und zwei Jahre später in dem darauf basierenden Buch The Nine Nations of North Amerika. Darin unterteilte er Nordamerika in neun Regionen, die sich kulturell und ökonomisch erheblich unterscheiden. Da sich in diesen Regionen historisch eigene Identitäten herausgebildet hatten, verstand er nicht nur als soziologische Einteilungen, sondern als echte Nationen.
Mit seinem Bild der neun Nationen, dass ursprünglich lediglich als Hilfe für die Journalistenkollegen von Garreau bei der Washington Post, gedacht war, traf er einen Nerv. Viele Leser bestätigten, dass sich sich der von ihm entworfenen Nation, in der sie lebten, voll und ganz identifizieren konnten. Einige meinten sogar, die Karte würde aus der nahen Zukunft stammen und eine neue politische Einteilung Nordamerikas zeigen, wie Garreau im Vorwort seines Buches mitteilt. Seine Einteilung ergab jedenfalls für viele Betrachter mehr Sinn, als die heutige Aufteilung in Staaten (Kanada, USA, Mexiko und die Staaten der Karibik) oder die Bundestaaten der USA und Kanadas.
Die Namen der neun Nationen leitete Garreau teils aus wirtschaftlichen, teils aus kulturellen Besonderheiten her:
New England umfasst die nordöstlichen Bundesstaaten der USA und die Südöstlichen von Kanada. Seine Hauptstadt ist Boston. Kulturell ist New England angloamerikanisch-puritanisch geprägt. Aufgrund der Küstenlage ist diese Nation globalistisch orientiert und damit ähnlich wie Ecotopia ein Gegenpol zu den Nationen im Binnenland.
The Foundry ist das alte industrielle Herz von Nordamerika. Diese Nation erstreckt sich zwischen New York, Philadelphia, Chicago und Ontario. Seine Hauptstadt ist Detroit. Die Foundry ist kulturell städtisch und industriell geprägt, sein Kern ist der sogenannte Rustbelt. Eine Anomalie in innerhalb der Foundry ist Manhattan, das von der Finanz- und Medienindustrie geprägt ist und in seiner Kultur globalistisch orientiert ist. Der Niedergang der traditionellen Industrie in der Foundry hat zu sozialen Verwerfungen geführt, weshalb sich in ihm auch viele sog. Swing States befinden, die dauerhaft zwischen Demokraten und Republikanern schwanken.
Dixie ist die Nation der Südstaaten und erstreckt sich von Virginia bis Osttexas und Florida (bis Fort Myers). Seine Hauptstadt ist Atlanta. Dixie steht in der Tradition der Konföderierten Staaten der Zeit des Bürgerkriegs. Wirtschaftlich ist Dixie teils ländlich, teils industriell geprägt, wobei mit einigen großen industriellen Inseln. Kulturell hat diese Nation eine eigene Südstaatenidentiät behalten, die zunehmend zu Konflikten zwischen den englischstämmigen Weißen und den schwarzen Nachfahren der Sklaven führt. 2020 eskalierte der Konflikt im Sturz von Denkmälern, die an die Zeit der Konföderierten Staaten erinnern.
The Breadbasket umfasst den größten Teil der Great Plains, der flachen Ebene westlich des Mississippi. Seine Hauptstadt ist Kansas-City. Der Breadbasket erstreckt sich von Oklahoma bis zu den Dakotas und von Nordtexas bis Ontario. Die Bevölkerung hat einen hohen Anteil von Nachfahren der skandinavischen und deutschen Einwanderer. Kulturell ist der Breadbasket daher nordeuropäisch geprägt, wirtschaftlich vornehmlich ländlich und politisch vornehmlich konservativ und patriotisch. Aufgrund ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit von den Küstenregionen, wo sich das politische Zentrum und die Finanz- und Technologiezentren befinden, steht es in Konflikt mit ihnen. Aus dem US-amerikanischen Teil des Breadbasket, dem sog. Mittlere Westen, stammen die loyalsten Anhänger von Trump.
MexAmerica umfasst Mexiko und die Regionen im Südwesten der USA von Südtexas bis Südkalifornien. Seine Hauptstadt ist Los Angeles. Kulturell ist MexAmerica mexikanisch-hispanisch geprägt. Wirtschaftlich ist die Region sehr vielfältig, dominant sind die Ölindustrie von Texas und die Medienindustrie im Großraum Los Angeles. Konflikte ergeben sich aufgrund der Zunahme der Hispanics im Südwesten der USA. Durch ihre konservative Haltung stärken sie die Republikanische Partei in der Region, hispanisieren sie dabei aber zunehmend.
The Islands umfassen die karibischen Inseln und Südflorida. Miami ist die Hauptstadt dieser Nation. Zunehmende Migration aus der Karibik, vor allem aus Kuba, haben Südflorida bereits weitgehend hispanisiert. Spanisch verdrängt dort zunehmend die englische Sprache. Kulturell ist die Region kubanisch-hispanisch geprägt, ökonomisch vor allem vom Tourismus.
The Empty Quarter ist ein riesiges Areal, das sich von den Rocky Mountains im Süden bis nach Alaska im Nordwesten und Nordkanada im Nordosten erstreckt. Die Bevölkerungsdichte ist sehr niedrig. In diesem leeren Gebiet lebt der Frontier-Geist fort, die (wenigen) Bewohner sind kulturell sehr heterogen. Der wichtigste Wirtschaftszweig ist die Rohstoffindustrie, insbesondere die Ölindustrie in Kanada und Alaska.
Ecotopia ist ein schmaler Küstenstreifen, der sich an der nordamerikanischen Pazifikküste von Santa Barbara im Süden bis hinauf nach Alaska erstreckt. Die Hauptstadt dieser Nation ist San Francisco. Kulturell ist diese Region sehr heterogen. Wirtschaftlich wird sie von der Hightech-Industrie im Großraum San Francisco (Silicon Valley) und im Großraum Seattle dominiert. Aufgrund der Küstenlage ist Ecotopia globalistisch orientiert und sieht sich als gesellschaftlicher und ökonomischer Vorreiter, woraus zunehmend Konflikte mit anderen Nationen erwachsen.
Québec umfasst die französischsprachigen Gebiete in Kanada, deren Hauptstadt Québec City ist. Kulturell ist diese Nation an Frankreich orientiert und in die Organisation internationale de la Francophonie (OIF), eine französische Einflussorganisation, eingebunden. 1980 und 1995 erfolgten Referenden für die Unabhängigkeit der Region, die beide gescheitert sind. Konflikte mit den anderen Regionen ergeben sich vor allem aus der sprachlich-kulturellen Sonderstellung von Québec und seinem Bestehen auf weitgehender Autonomie.
Aufgrund ökonomischer und demographischer Veränderungen könnte es in Nordamerika in den nächsten Jahrzehnten auch zu politischen Veränderungen kommen. Die Nine Nations von Joel Garreau bilden eine mögliche Blaupause für die neue Karte von Nordamerika. Danach könnten die USA und Kanada in mehrere neue Nationen zerfallen. Mexiko könnte weiter nach Norden wachsen und die Karibik von Miami aus in einem Staatenbund geeint werden. Es lohnt sich also, die Karte von Garreau im Hinterkopf zu behalten.