
Für Herfried Münkler steht fest, dass mit Russlands Krieg gegen die Ukraine eine neue Weltordnung der Großmachtrivalität begonnen hat. In einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt bewertet er die Auswirkungen dieser neuen Lage und fordert die Europäer auf, eine eigene nukleare Abschreckung aufzubauen.[1]„Wenn Putins Plan scheitert, wird er einen schrecklichen Zerstörungskrieg führen“, Die Welt, 05.03.2022.
Der russische Angriff kam für Münkler nicht überraschend. Schon früh hatte er auf drei Hypothesen hingewiesen: Erstens, dass Putin ist ein Imperialist sei, der Russland entweder wieder zu den Grenzen des Zarenreichs oder denen der Sowjetunion führen will. Zweitens, dass er sich durch eine Einkreisung bedroht fühlt. Und drittens, dass er fürchtet, dass es auf dem Roten Platz in Moskau zu einem Aufstand wie auf dem Maidan in Kiew kommen könnte.
Die zweite Hypothese schließt Münkler aus und meint, dass er dann bereits vor Jahren, etwa in der Obama-Ära hätte losschlagen müssen. Dieser Einschätzung ließe sich jedoch entgegenhalten, dass Russland zu dem Zeitpunkt noch nicht auf eine solche Konfrontation mit dem Westen vorbereitet war.
Als Grund für das jetzige Losschlagen vermutet Münkler, dass Putins offenbar beim Essen der Appetit gewachsen war: Nachdem er das Problem Belarus und die dortige Schaukelpolitik von Lukaschenko beseitigt hatte und auch noch Kasachstan „einsackte“, schien ihm die Gelegenheit zum Losschlagen in der Ukraine günstig, da er auf Dauer keinen demokratischen Staat in der Nähe Russlands dulden konnte.
In seiner geschichtspolitischen Begründung für sein Handeln widerspricht sich Putin nach Münklers Ansicht selbst: „ein Brudervolk kartätscht man nicht nieder. So geht man nicht mit Brüdern um“. Es wird ihm daher wohl auch nicht gelingen, die Ukraine gefügig zu machen und in Kiew eine prorussische Regierung einzusetzen, weil die Ukrainer die russischen Truppen nicht als Befreier begrüßen.
Problematisch an der Situation ist, dass Putin wohl „in einer Echokammer lebt, in der er sich nur selbst hört“, was auf „strukturelle Lernunfähigkeit“ hinausläuft. Bei ihm gilt wohl auch das „Gesetz der zunehmenden Verdummung von Autokraten, weil sie strukturell nur von Speichelleckern umgeben sind“, so Münkler. Das kann dazu führen, dass Putin bis zum Äußersten entschlossen ist. Der Westen kann ihm in dieser Situation auch nichts anbieten: „Wenn sein Plan scheitert, die Ukraine schnell zu unterwerfen, wird er einen schrecklichen Zerstörungskrieg führen und am Ende ein Triumphator auf einem Trümmerhaufen sein.“
Europa muss ich darauf einstellen, dass Putins „Herumfuchteln mit Atomwaffen (…) zu einem Akt existenzieller Verzweiflung werden“ könnte. Daher werden sich die Europäer nach Ansicht Münklers über kurz oder lang mit der Frage beschäftigen müssen, „eine eigene europäische Nuklear-Abschreckung zu entwickeln“ – eine, die viel stärker ist als die französische Force de frappe. Eine alleinige deutsche Atomwaffe sollte hingegen vermieden werden, so Münkler, da sie in Europa wieder die deutsche Fragen aufwerfen könnte.
Eine schnelle Lösung des Konflikts durch einen Sturz Putins kann nach Münklers Einschätzung „nur aus Russland selbst kommen“, entweder aus den Reihen der im Westen enteigneten Oligarchen oder „aus dem Sicherheitsapparat und dem Militär“ – also durch einen Staatsstreich. Schließlich müssten seine Generäle doch sehen, dass Putins Begründung nicht stimmt, wenn er auf seine Brüder in der Ukraine feuern lässt, so Münkler.
Münkler stellt abschließend fest, dass wir „Zeuge einer entstehenden Weltordnung (sind), in der die Großakteure über eigene Einflusssphären verfügen“ und folgert daraus: „Die Idee der Universalisierung der Werte ist vorbei“. Man wird sich jetzt wieder an den Nutzen von Pufferzonen erinnern, den man im Zuge der Euphorie von 1989 vergessen hat. Mit dem Konflikt mit Russland werden wir nach Münklers Einschätzung wohl noch lange leben müssen. Wir müssen uns wohl auch darauf einstellen, dass Finnland das nächste Opfer werden könnte, wenn Putin sich daran erinnert, dass es bis 1918 zum Zarenreich gehörte.
Anmerkungen
1 | „Wenn Putins Plan scheitert, wird er einen schrecklichen Zerstörungskrieg führen“, Die Welt, 05.03.2022. |
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