Mit dem Ukraine-Krieg und dem neu aufflammenden Nahostkonflikt in Gaza sind geopolitische Analysen zu einem alltäglichen Bestandteil der Presse geworden. Auch der Cicero macht hier keine Ausnahme und widmet sich in seiner diesjährigen Dezemberausgabe dem geopolitischen Weltgeschehen. So weit, so gut, doch leider scheitert das Magazin bei seinem Versuch einer Einordnung des aktuellen “Kampfes um die neue Weltordnung”. Ungewollt illustriert die Zeitschrift damit jedoch das Problem der deutschen Geopolitikdebatten: ein oberflächliches und ideologisch beschränktes Denken.
Der Autor des Artikels, Stephan Bierling, Professor für Internationale Politik an der Universität Regensburg, nennt in seinem Artikel die Hauptgründe für die außenpolitische Schwäche Deutschlands: “Aber es fehlt an allem: an strategischen Denkern in der Politik und klugen Debatten in der Öffentlichkeit, an den militärischen Fähigkeiten und am Willen, sie notfalls einzusetzen.” – Was der Autor in seiner Aufzählung vergessen hat, ist das fehlende strategische Denken in weiten Teilen der Politikwissenschaft, für das er selbst das beste Beispiel abgibt.
Der Cicero-Artikel will auf sechs Textseiten den aktuellen Weltkonflikt erklären, bleibt dabei jedoch in einem unterkomplexen Gut-Böse-Narrativ stecken. Die Guten, das sind natürlich die USA und ihre Verbündeten. Sie haben in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre eine “liberale, regelgeleitete internationale Ordnung” errichtet, so Bierling. Der Autor beschreibt diese Ordnung als ein wahres Paradies: “Die schöne neue Welt gründete auf gemeinsamen Normen und Werten, allen voran Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Marktwirtschaft.” Alles war ganz wunderbar eingerichtet, stellt der Autor fest: “Die Vereinten Nationen verboten Angriffskriege, schrieben die Unverletzlichkeit der Grenzen fest und postulierten individuelle Menschenrechte. Die Weltbank unterstützte den Wiederaufbau der vom Krieg verwüsteten Nationen und bekämpfte später die Armut in den Entwicklungsländern.” – Das liest sich wie ein Werbeprospekt.
Diese gute Ordnung ist nun aber in Gefahr, denn die finsteren Mächte China und Russland haben sich nun verschworen, diese gute Ordnung zu zerstören, so Bierling. Er erklärt das so: “Beide Staaten hatten, als sie schwach waren, stillgehalten und böse Miene zum guten Spiel gemacht. Die Zeit schien ihnen nun reif, aus dem westlichen Ordnungsmodell auszubrechen. Dessen Regeln wie freie Wahlen, Rechtsstaat und Meinungsfreiheit im Inneren sowie Gewaltverzicht, Grenzanerkennung und friedliche Streitbeilegung nach außen bedrohen in der Tat ihr autoritäres und imperiales Selbstverständnis.” – Tiefere Gründe, warum China und Russland die wunderbare Ordnung des Westens ablehnen, nennt Bierling nicht. Wie im Märchen tun die Bösen eben böse Dinge, weil sie böse sind.
Mit diesem unterkomplexen Narrativ zeigt Stephan Bierling, dass er den Text nicht als Wissenschaftler verfasst hat, sondern lediglich als transatlantischer Propagandist im Dienste der USA. Ein Blick auf die Fakten zeigt, warum die angeblich gute Ordnung von nicht wenigen Mächten und Menschen in der Welt abgelehnt wird.
Haben sich denn die USA in den Jahrzehnten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges an die Regeln ihrer eigenen liberalen Weltordnung gehalten? Haben sie selbst Gewaltverzicht und friedliche Gewaltbeilegung geübt? Die lange Liste der US-Militär- und Geheimdienstoperationen seit 1945 gibt eine eindeutige Antwort. Kein anderer Staat auf der Welt hat seitdem so viele Kriege begonnen, so viele Anschläge auf ausländische Staatsoberhäupter verübt und so viele Zivilisten getötet, wie die USA.
Betrachtet man die in den 1940ern errichtete Weltordnung objektiv, so zeigt sie sich als eine, die nur einen Hauptprofiteur hat: die USA. Die Vereinten Nationen verboten zwar Angriffskriege – allerdings nur denjenigen Staaten, die keine ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates sind. Die fünf Mitglieder des Sicherheitsrates konnten mit ihrem Vetorecht jede Verurteilung der eigenen Handlungen unterbinden. Es ist auch kein Zufall, dass die Weltbank seit ihrer Gründung stets von einem US-Amerikaner geführt wird.
Man muß China und Russland keine finsteren Absichten unterstellen, wenn man ihren Widerstand gegen eine Weltordnung beschreibt, die hauptsächlich den USA nützt. Vor allem aber sollte man nicht die Realität verbiegen, um das eigene Gut-Böse-Narrativ aufrechterhalten zu können. Der Text von Bierling bietet dafür ausreichend Anschauungsmaterial.
Um aufzuzeigen, wie böse der russische Präsident Wladimir Putin ist, verweist Bierling auf dessen Intervention im Nahen Osten: “In Syrien rettete er durch Flächenbombardements und Wagner-Soldateska seinen Verbündeten Baschar al Assad vor der Niederlage gegen die Rebellen.” Allein diese Sprache ist einen Wissenschaftlers unwürdig. Die Wagner-Söldner werden als “Soldateska” abgewertet, die Terroristen des IS und Al-Qaida-Gruppen hingegen zu “Rebellen” aufgewertet. Wer so schreibt, will manipulieren. Im übrigen stellt sich die Frage, was verwerflich daran sein soll, seinem Verbündeten beizustehen. Insbesondere wenn der Islamische Staat (IS) der Gegner ist.
Auch in Bezug auf China lässt der Autor jede Objektivität vermissen. Chinas Anspruch auf das Südchinesische Meer sieht er basierend auf “der Lüge, das Gebiet sei historisch stets chinesisch gewesen”. Man mag Chinas Auffassung über seinen Besitzanspruch über die Inseln im Südchinesischen Meer nicht teilen, es ist jedoch eine historische Tatsache, dass diese Inseln von chinesischen Seefahrern entdeckt, benannt, erforscht und genutzt wurden – und keinesfalls eine historische Lüge.
Gänzlich absurd wird es, wenn Bierling der chinesischen Regierung Antisemitismus vorwirft: “Peking bedient ebenfalls antisemitische Klischees, indem es die amerikanische Politik als von Juden kontrolliert dämonisiert […].” – Dem Politikprofessor Bierling sei hier beispielhaft die Lektüre eines Artikels von Shlomo Maital in der The Jerusalem Post vom 9. Februar 2021 empfohlen, in dem dieser feststellt, dass fast alle Schlüsselpositionen im Kabinett von US-Präsident Biden mit Juden besetzt sind:
- Antony Blinken, Secretary of State (Außenminister)
- Janet Yellen, Secretary of the Treasury (Finanzministerin)
- Merrick Garland, Attorney General (Justizminister, ihm untersteht das FBI)
- Alejandro Mayorkas, Secretary of Homeland Security (Minister für Innere Sicherheit)
- Avril Haines, Director of National Intelligence (Koordinatorin aller US-Geheimdienste)
- David Cohen, Deputy CIA-Director (Stellvertretender Chef des Geheimdienstes CIA)
- Anne Neuberger, Director of Cybersecurity, NSA (NSA-Direktorin für Cybersicherheit)
- Ron Klain, Chief of Staff (ranghöchstes Mitglied des Executive Office des US-Präsidenten)
- Eric Lander, Director, Office of Science & Technology Policy (Wissenschaftsminister)
- Rachel Levine, Deputy Secretary, Health and Human Services (Gesundheitsminister)
- Wendy Sherman, Deputy Secretary of State (Stellvertretende Außenministerin)
- Douglas Emhoff, Second gentleman (Ehemann der US-Vizepräsidentin Kamala Harris)
Shlomo Maital nennt noch weitere Positionen. Zu ergänzen wäre noch Victoria Nuland, seit Mai 2021 Staatssekretärin im US-Außenministerium und seit Juli 2023 Stellvertreterin von Außenminister Blinken. – Angesichts dieses Auflistung kann man niemandem Antisemismus unterstellen, der darauf hinweist, dass Juden einen erheblichen Einfluß auf die aktuelle US-Politik haben. Wenn Bierling dies dennoch tut, dann wohl allein, um die chinesische Regierung zu diskreditieren.
Man könnte den Cicero-Text weiter durchgehen und weitere Stellen nennen, die Ungenaugkeiten, Unterstellungen oder manipulative Sprache aufweisen. Eines Professors für Internationale Politik ist der Text jedenfalls nicht würdig. Man merkt zu sehr den Wunsch des Autors, die Welt allein in Schwarz und Weiß darzustellen und alle Grautöne zu eliminieren.
Der Autor hat dem Leser aber trotz aller analytischen Mängel einen Dienst erwiesen. Er hat ihm gezeigt, woran die Geopolitikdebatte in Deutschland krankt: an Moralismus und dem erkennbaren Wunsch vieler Beteiligter, dem amerikanischen Hegemon mit besonderem Eifer dienstbar zu sein.
Wer wissen will, wie die Weltpolitik sich derzeit wirklich ordnet, der sollte nicht die neue Cicero-Ausgabe lesen, sondern besser das vor kurzem erschienene Buch Welt im Aufruhr von Herfried Münkler zur Hand nehmen. Für den Preis von weniger als drei Cicero-Heften erhält man dort eine Analyse der gegenwärtigen Weltpolitik auf über fünfhundert Seiten – und ganz ohne plumpe transatlantische Propaganda.