Die Geopolitik erlebt einhundert Jahre nach ihrer Begründung durch General Karl Haushofer eine erneute Renaissance. War es um 1990 der Untergang des Kommunismus und die deutsche Wiedervereinigung, welche sie in Deutschland aus der Vergessenheit geholt haben, so verdankt sie ihre erneute Popularität dem derzeitigen Krieg in der Ukraine und den mit ihm verbundenen Verwerfungen.
Nachdem sich bereits die diesjährige Sommerakademie des Vereins für Staatspolitik dem Thema Geopolitik gewidmet hatte, gibt die Oktoberausgabe der vom Verein herausgegebenen Zeitschrift Sezession nun einen vertieften Einblick in das Thema. Nachfolgend soll ein kurzer Überblick über den Inhalt des Heftes gegeben werden:
Erik Lehnert stellt in einem sechsseitigen Aufsatz Leben und Werk von Karl Haushofer vor. Etwas befremdlich mutet an, dass Lehnert dabei den Topos vom “Missbrauch der Geopolitik” in der Zwischenkriegszeit übernimmt. Dessen Ungeachtet dessen gibt er aber eine gute Einführung in die wesentlichen Gedanken Haushofers. Der Aufsatz bietet zudem gut ausgewählte geopolitische Karten (leider ohne Angabe ihrer Urheber) und bibliografische Verweise zu ausgewählter Primär- und Sekundärliteratur.
Felix Diersch befasst sich im Anschluss auf fünf Seiten mit Geopolitik und Politischer Geographie. Unter Verweis auf Carl Schmitt, Halford Mackinder und andere begründet er zwei gut gewählte Thesen: 1. “Geopolitik ist Teil realistischer Strategien selbstbewußter Staaten” und 2. “Machtvergessene Staaten sind zur geopolitischen Strategie unfähig und gefährden damit ihre ökonomische Stellung”. Anzumerken wäre zur zweiten These, dass die “machtablehnende Grundtendenz” im heutigen Deutschland sicherlich nicht zufällig entstanden, sondern von interessierter Seite so gewollt ist.
Ivor Claire gibt auf vier Seiten einen ungeschönten Einblick in die geopolitische Realität der heutigen Welt: Deutschland ist nur Objekt der Weltpolitik und Brückenkopf des “Bündnispartners” USA. Für kleine Mächte ist die Gefahr groß, das Bauernopfer für fremde Interessen zu werden. Im zweiten Teil seines Aufsatzes skizziert Claire die Notwendigkeit der Herausbildung einer neuen Elite in Deutschland, die umfassend auf geostrategischem Gebiet geschult ist.
Dimitrios Kisoudis befasst sich mit dem Großraum Europa und erinnert in seinem Aufsatz daran, dass Deutschland eigentlich nicht zum Westen gehört. Auf sechs Seiten analysiert er die gegenwärtige europäische Ordnung mit Rückgriff auf Carl Schmitts Idee des Großraums. Am Ende des Aufsatzes kommt Kisoudis zu dem Schluss, dass es die Aufgabe Deutschlands ist, die Multipolarität herbeizuführen – so unwahrscheinlich dies angesichts seines derzeitigen Zustandes der mentalen Selbstverleugnung auch auch erscheinen mag.
Konrad Markward Weiß zeichnet auf fünf Seiten den Beginn der europäischen Expansion nach. Angefangen mit Ferdinand Magellan kommt er auf die Frage zu sprechen, warum es gerade Europa gelang, die Welt zu erobern.
Michael Wiesberg erläutert im Anschluss die Hintergründe des Ukraine-Krieges – unter besonderer Berücksichtigung der Aktivitäten der USA. Er betrachtet dabei die akademische amerikanische Diskussion über den Platz der USA in der Welt und kommt mit Hauke Ritz zu dem Schluss, dass deren gegenwärtige Politik aus der Tatsache resultiert, dass sie sich die USA im Abstieg befinden.
In einem Interview erkläutert Hans Neuhoff Deutschlands gegenwärtige Lage im Hinblick auf den Ukrainekonflikt. Am Ende des vierseitigen Gesprächsprotokolls gibt Neuhoff Literaturhinweise für alle, die sich außerhalb der Schweigespirale informieren möchten.
Stefan Scheil erinnert auf vier Seiten an das Schicksal Kleinasiens nach dem Ersten Weltkrieg und die 1922 erfolgte Vertreibung der Griechen daraus.
Benedikt Kaiser erläutert die amerikanisch-strategischen Hintergründe des China-Taiwan-Konfliktes aus deutscher und europäischer Sicht.
Dušan Dostanić untersucht mit dem Balkan einen weiteren Konfliktherd. Aus serbischer Sicht plädiert er für gute Beziehungen mit Ungarn und Russland.
Das Sezessions-Heft gibt im Anschluss mit einem Blick auf die Geopolitik-Literatur mit Klassikern von Mahan, Mackinder, Schmitt u.a. bis aktuelleren Titeln von Marshall und Baños. Gewissermaßen als Zugabe gibt es danach auf vier Seiten den von Karl Haushofer 1945 verfassten Aufsatz Apologie der deutschen Geopolitik. Man hätte sich hier allerdings eine Einordnung dieser unter extremen Bedingungen entstandenen Rechtfertigungsschrift gewünscht.
Zusammenfassend betrachtet ist diese Ausgabe der Sezession eine hervorragende Einführung in das geopolitische Denken. Es ist zu hoffen, dass sie viele Leser in Deutschland finden wird.
Die Ausgabe Nr. 110 (Oktober 2022) der Zeitschrift Sezession mit dem Schwerpunkt Geopolitik kann beim Verlag Antaios für 11 Euro bestellt werden.