Die Tatsache, daß wir genötigt sind, von Politischer Geographie und Geopolitik zu sprechen, zeugt auf dem hier zu behandelnden Gebiet von einer, geschichtlich sehr wohl zu begreifenden, für Denken und Lehren zum mindesten unbequemen Lage. Sie nötigt jeden, der sich grundsätzlich mit Politischer Geographie und Geopolitik beschäftigt, zu der Frage nach dem Unterschied beider Bezeichnungen, und damit zu Überlegungen, denen andere Zweige der Wissenschaft — manchmal zu ihrem Nutzen, manchmal zu ihrem Schaden — enthoben sind. Eine Teilwissenschaft, die jeden Versuch ihrer eigenen Darstellung damit beginnen muß, nachzusinnen, was sie eigentlich sei, setzt sich begreiflicherweise der spöttischen Frage aus, ob sie überhaupt etwas Rechtes oder Selbständiges sein könne. Sie hat dafür, gegenüber Nachbarn, die über ein festeres und besser umgrenztes Gehäuse verfügen, den Vorteil, näher an den Quellen des Zweifels und damit an den Quellen der Weiterentwicklung zu sein.
Jede wissenschaftliche Disziplin hat Kern- und Randgebiete. Lassen wir die Begriffs-Abgrenzung zwischen Politischer Geographie und Geopolitik einstweilen beiseite, und fragen wir uns, was für beide Wesenskern sei. Wonach richtet sich grundsätzlich die Fragestellung beider? Die Antwort darauf ist einfach: Die Fragestellung ist gerichtet auf die Wechselbeziehungen zwischen der räumlichen Umwelt des Menschen und seinen politischen Lebensformen.
Diese Fragestellung ist älter als ihre Bezeichnung unter dem Namen sowohl der Politischen Geographie wie der Geopolitik. Sie ist ein weit in die Vergangenheit verfolgbares Anliegen des menschlichen Denkens. Staatsmänner und Feldherren, Philosophen und Historiker haben sich mit ihr beschäftigt, lange bevor es Geographie und Anthropologie, Ethnologie und Rassenkunde, Politische Geographie und Geopolitik als reine oder angewandte Wissenschaftszweige gegeben hat. Wer sich heute mit Politischer Geographie und Geopolitik beschäftigt, tut gut daran, dies nicht zu vergessen. Wo immer man sich ernsthaft mit den Wechselwirkungen zwischen der räumlichen Umwelt des Menschen und seinen politischen Lebensformen befaßt hat, ist das getrieben worden, was heute in Deutschland unter Politischer Geographie und Geopolitik verstanden, in anderen Ländern (wie wir noch sehen werden) unter Bezeichnungen wie „géographie humaine“, „social geography“, oder auch „military geography“ mit einbegriffen wird. Umgekehrt glauben wir fest- steilen zu dürfen, daß es kein neueres Werk der Politischen Geographie oder Geopolitik gibt, das nicht in grundsätzlicher oder räumlicher Betrachtung auf die oben geformte Frage zurückginge — mag sie auch dem Gegenstand nach begrenzt, dem Begriff nach eingeengt oder zu Zielen tätigen Handelns gewendet worden sein.
Daß diese Fragestellung heute — und zwar vornehmlich in Deutschland — unter den Bezeichnungen Politische Geographie und Geopolitik wissenschaftlich behandelt wird, ist nur geschichtlich zu erklären. Der Begriff Politische Geographie ist der ältere von beiden. Er ist erstmals im Frankreich des 18. Jahrhunderts durch Turgot zur Grundlage eines wissenschaftlich-politischen Versuchs im Sinn des heutigen Gebrauchs gemacht worden. Er ist dann, ein Jahrhundert lang, als Bezeichnung für eine allgemeine, statistische Länder- und Staatenkunde verwendet worden. Unsere Kernfrage (schon vor Turgot bei Montesquieu in den Mittelpunkt gestellt und geistvoll behandelt) ist außerhalb dessen, was damals Politische Geographie genannt wurde, durch Herder und Hegel, Ritter und Humboldt, nicht zuletzt durch Roon und Moltke weitergeführt worden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzog sich dann eine völlige Aufspaltung des Bereichs der älteren Politischen Geographie: die Geographie entwickelte sich zeitweise als reine Naturwissenschaft; die Statistik der Staaten ging in den Bau der neueren Staats- und Sozialwissenschaften ein. So entstand jener leere Raum, in dem Friedrich Ratzel die neuere Politische Geographie begründet hat.
Über die Frage, ob diese ein Teil des geographischen Lehr- und Forschungsbereiches sei, oder nicht, ist viel gestritten worden. Tatsache ist, daß Politische Geographie in erster Linie von Geographen gepflegt worden ist. Sie hätte, ihrer Fragestellung nach, genau so gut von Geschichts- oder Staatswissenschaftlern gepflegt werden können, freilich nur von solchen mit geographischem Blick. Daran hat es, in dem Menschenalter vor 1914, gefehlt. Aber auch innerhalb der Geographie war die herrschende Richtung — obgleich die Persönlichkeit Ratzels anerkannt wurde — wenig geneigt, den von ihm angeschnittenen Fragen breiteren Raum zu gewähren.
Der Begriff Geopolitik ist nicht von einem Geographen sondern von einem Staatsrechtler geprägt worden. Er stammt von Rudolf Kjellén, und wurde von ihm zur Bezeichnung eines Teilgebiets seiner allgemeinen Staatslehre verwendet. Dabei zeigte sich, daß Kjellén den weitaus größten Teil dessen in die Staatswissenschaft einbezog, was Ratzel und seine Nachfolger im Bereich der Geographie als Politische Geographie behandelt hatten und weiter behandelten.
Allerdings bestimmte Kjellén den Kerngehalt der Geopolitik anders als es Ratzel für die Politische Geographie getan hatte, auch anders als wir ihn zu fassen versuchen. Seine Bestimmung ist zugleich weiter und enger. Sein erster, viel übernommener Satz zur Geopolitik lautet: „Die Geopolitik ist die Lehre vom Staat als geographischem Organismus oder als Erscheinung im Raume.“ Abgesehen davon, daß erster und zweiter Teil dieser Bezeichnung sich nicht ganz decken, enthält sie den Ansatz zu einer durchaus anfechtbaren Auffassung des Staates als eines „Organismus“, die, von anderen Köpfen als dem Kjelléns gebraucht, viel Verwirrung angerichtet hat. Zudem engt sie den Bereich der Betrachtung auf eine politische Lebensform ein: den Staat — ohne darauf Rücksicht zu nehmen, daß der Staat nur eine unter vielen politischen Lebensformen ist. Weite Strecken der Weltgeschichte sind nur dann verständlich, wenn man sich freimacht von jenem Vorwiegen des Staatsbegriffs, das zu gewissen Zeitabschnitten, so in der Spätantike und in den letzten Jahrhunderten der europäischen Festlandgeschichte entwickelt worden ist. Kjelléns organische Staatstheorie — von den Staatswissenschaften zumeist abgelehnt — ist dann von einem Teil der Politischen Geographen übernommen worden; diese sind dadurch abgelenkt worden in Erörterungen, die der Geschichtsphilosophie zugehören — und belassen werden sollten.
Angeregt von Ratzel wie von Kjellén, entscheidend angetrieben durch die Erfahrungen des Weltkriegs und der Friedensverträge von 1919, hat sich dann die neueste Politische Geographie und Geopolitik in Deutschland entwickelt. Geographen ursprünglich naturwissenschaftlicher Schule, wie Penck, Supan, Sieger und Hettner, Obst, Maull und Lautensach, wandten sich politisch-geographischen Fragestellungen zu; die politische Selbstbehauptung des deutschen Volkes forderte zweckbestimmte Arbeit der Wissenschaft in der Auseinandersetzung um Grenzen und Lebensraum, In ihrem Dienst wurde der Begriff Geopolitik durch Karl Haushofer übernommen, an Hand asiatisch-pazifischer Beispiele ausgebaut und in enge Verbindung mit außen- und kulturpolitischen Aufgaben gebracht.
So ist in den beiden Jahrzehnten zwischen den Weltkriegen über den Zusammenhang zwischen räumlicher Umwelt und politischem Geschehen in deutscher Sprache viel gedacht und geschrieben worden; teils unter dem Namen Politische Geographie, teils unter dem Namen Geopolitik. Einige der geistvollsten Einzelarbeiten z. B. von Sieger und Hassinger tragen politisch-geographische Überschriften; ebenso der einzige bisher vorliegende Versuch, den Werken Ratzels eine selbständige Gesamtschau streng wissenschaftlicher Haltung an die Seite zu setzen (von Maull). Die Historische Geographie hat durch Vogel Wichtiges beigesteuert, nicht zuletzt durch eine sorgfältige Sichtung und Wertung des bis 1935 vorliegenden Schrifttums. Die stärkste Auswirkung sowohl im Sinn wissenschaftlichen Anregens — das sich weit über den engeren Fachbereich erstreckt hat — wie im Sinn eines politischen und schriftstellerischen Wirkens in die Breite aber ist unter dem Namen Geopolitik erfolgt. Versuche, das unter Politischer Geographie, und das unter Geopolitik zu Behandelnde methodisch zu trennen, sind gemacht worden. Erfolg haben sie nicht gehabt; sie konnten ihn auch nicht haben. Zeitweise mochte es erscheinen, als ob der jüngere Begriff den älteren ganz verdrängen werde. Doch entging die Geopolitik nicht völlig jenen Gefahren, denen jede neuartige Lehre mit starkem äußerem Erfolg und beträchtlicher unmittelbar-politischer Wirkung gegenübersteht (nicht anders ist es z. B. der Soziologie ergangen): Einseitigkeiten der Betrachtungsweise etwa im Sinn eines übersteigerten geographischen Determinismus oder jener schon gestreiften Organismus-Theorie des Staates wurden nicht immer vermieden; lehrbuchartige Zusammenfassungen verfrüht und auf nicht ganz zureichenden Grundlagen versucht. Allzu grobes kartographisches Vereinfachen vielgestaltiger Probleme weckte berechtigte Kritik. Endlich führte die Übernahme schlagkräftiger, von der Geopolitik entwickelter oder geprägter Ausdrücke (z. B. „Lebensraum“) in den außenpolitischen Tageskampf und damit zu weltweiter, wenn auch nicht mehr wissenschaftlicher Auswirkung dahin, daß ein notwendiges Verfeinern ihrer Anwendung gerade bei wichtigen Grundbegriffen unterblieb. Je mehr die Geopolitik darum rang, „zum geographischen Gewissen des Staates zu werden“ (K. Haushofer), je mehr sie sich damit den Bedingungen politischen Wollens anpaßte und anpassen mußte, desto näher lag es, Untersuchungen grundsätzlicher, in Bezug auf die Forderungen des Tages zweckfreier Art als politisch-geographisch, und nicht als geopolitisch, zu bezeichnen. So hat sich in den letzten Jahren eine gewisse Klärung angebahnt: Versuche, Politische Geographie und Geopolitik vom Stoff her zu scheiden, werden kaum mehr unternommen; für den gleichen Fragenkreis wird der erste Ausdruck verwendet, wenn es sich um Probleme der reinen, der zweite, wenn es sich um Probleme der angewandten Wissenschaft handelt. Eine strenge Scheidung im Ausdruck wird sich niemals durchführen lassen. Sie ist auch im gegenwärtigen Schrifttum nicht nachzuweisen. Doch gibt die Trennung nach reiner und angewandter Wissenschaft immerhin einen Anhaltspunkt für ein klareres und durchaus zu begrüßendes Handhaben der Begriffe. Um ein Beispiel aus ferner Vergangenheit zu wählen: Wenn wir danach fragen, welchen Anteil die landschaftliche Lage der Hauptstädte Babylon, Susa, Persepolis und Pasargadä an ihrer wechselnden Bedeutung für das Achämenidenreich gehabt hat, so tun wir das im Rahmen einer vorwiegend politisch-geographischen Betrachtung; die Gründung Alexandrias durch den großen Makedonen aber nennen wir mit Fug und Recht eine Handlung von geopolitischer Weitsicht. — Sprachgebräuche lassen sich nicht erzwingen oder verbieten. Wie man auch die auf unserem Gebiet vorliegende Zweiheit von Begriffen handhabe: die Einheitlichkeit der Hauptfrage darf darüber nie vergessen werden.
Von Deutschland ausgehend, ist der Begriff der Geopolitik in das wissenschaftliche und politische Schrifttum anderer Sprachen übergegangen: nach Italien (Roletto, Massi) und Spanien (Vives), einigen Ländern Südosteuropas, später auch nach China und Japan im Sinn einer gleichartigen Anwendung; nach Frankreich, England und Amerika zuerst in Gestalt unfreundlichen Sichauseinndersetzens mit dem, was an der deutschen Geopolitik als politisch wirksam, daher als unbequem empfunden wurde. Doch wäre es irrig, den Beitrag, den die westlichen Länder zu unseren Fragestellungen geliefert haben, lediglich an ausgeprägten Streitschriften (z. B. Ancels) oder an räumlich gegliederten Übersichten außenpolitischer Probleme (z. B. Shorts) zu messen. Ein großer Teil dessen, was in Deutschland unter Politischer Geographie und Geopolitik behandelt wird, ist in England, Frankreich und Nordamerika vielfach, wenn auch unter anderem Namen, bearbeitet worden.
Frankreich, hat zu einer Zeit, in der es Ratzel in Deutschland versagt blieb Schule zu bilden, eine „Géographie humaine“ entwickelt. Diese ging von Reclus aus und hat über Vidal de la Blache, Brunhes, Vallaux, Demamgeon, de Martonne zu Denis, Sion, Blache. Blanchard, Deffontaines, Ancel sowohl im Bereich der allgemeinen Geographie des Menschen wie der Länderkunde durchaus bedeutende Leistungen aufzuweisen. Diese „géographie humaine“ französischer Prägung hat die Frage nach den Wechselbeziehungen zwischen räumlicher Umwelt und politischen Lebensformen von Anfang an mitbehandelt, oft genug in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung gestellt. Sie hat sich der besonderen raumpolitischen Anliegen der französischen „état-nation“ mit Gründlichkeit und Eifer angenommen. Ihr ganzes Schrifttum ist — wenn wir die begriffliche Scheidung nach reiner und angewandter Wissenschaft hier ansetzen — reich nicht nur an politisch-geographischer, sondern auch an geopolitischer Darstellung: nur ist die Bezeichnung „geopolitisch“ dabei nicht üblich.
Verwandtes gilt für England. Der Unterschied zu Frankreich liegt darin, daß in England trotz oder gerade wegen einer Fülle von wertvollen Reiseberichten bis in die neueste Zeit hinein keine geschlossene Schule geographischer Wissenschaft bestanden hat. So fehlen die für Deutschland wie für Frankreich kennzeichnenden allgemeinen Betrachtungen nahezu völlig. Die wenigen Ausnahmen (z. B. Mackinder) zeichnen sich durch Knappheit der Form und Weife des Ausblicks aus. Durchaus reichhaltig aber ist das englische Schrifttum an Einzeldarstellungen unmittelbar politischen Charakters auf geographischem Grund (z. B. Holdich). „Empire-Builder“ im Stil von Curzon haben an ihr einen wesentlichen Anteil. In diesen Kreis gehört geistig (mit weitreichenden politischen Auswirkungen) auch der nordamerikanische Theoretiker der Seemacht, Admiral Mahan.
Auch abgesehen von Mahan (und von einem direkten Weiterwirken Ratzels durch E. Semple) ist in den Vereinigten Staaten auf die großräumigen Zusammenhänge zwischen Geographie und Geschichte frühzeitig hingewiesen worden (E. Huntington). Die Weltlage von 1919 hat dann amerikanische Geographen, an ihrer Spitze I. Bowman, zu mehr oder minder erfolgreichen politischen Sachverständigen gemacht. Der zeitweilige Rückzug nordamerikanischen Einflusses aus anderen Erdteilen hat die politisch-geographische und geopolitische Beschäftigung mit ihnen durch die amerikanische Wissenschaft keineswegs vermindert. Doch tritt auch hier, wie in Frankreich und England, die Bezeichnung „Political geography“ selten, die Bezeichnung „geopolitics“ erst in den letzten Jahren auf. Die meisten hierher gehörenden Arbeiten werden entweder unter dem-weiten Sammelnamen „Social science” und „Political science” geführt; oder sie entwachsen dem Feld der allgemeinen Geographie des Menschen, die in den beiden letzten Jahrzehnten unter den Bezeichnungen „Human geography“, „Social geography“ und „Economic geography“ in den Vereinigten Staaten (z. T. auch in Kanada und Australien) eine umfassende Pflege gefunden hat. Ihr entstammen recht wertvolle Einzeluntersuchungen und eine nicht geringe Zahl von Handbüchern unterschiedlichen Ranges. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der deutschen Politischen Geographie und Geopolitik ist durch Hartshorne geboten worden. Daß der „Historische Atlas der Vereinigten Staaten“ (der einzige neuere von Rang neben dem Großen Sowjet-Atlas und dem Atlas des Deutschen Lebensraums) eine der wenigen Leistungen von hohem Wert im Bereich des für uns wichtigen Kartenwesens ist, darf gleichfalls nicht verschwiegen werden.
Darüber, wie weit und wie gründlich die politisch-geographische und geopolitische Fragestellung in anderen als den schon genannten Ländern verfolgt worden ist, habe ich nur unvollkommene Übersicht. In Schweden hat Kjellén keine stärkere Nachwirkung hinterlassen. Von den schwedischen Geographen ist für unser Gebiet wohl nur Sten de Geer mit einigen wichtigen Arbeiten zu nennen. In Finnland war politisch-geographisches Interesse beständig wach; es hat seinen Niederschlag in einer Reihe von ausgezeichneten, in erster Linie den finnischen Raum behandelnden Arbeiten gefunden. Aus Dänemark und Norwegen sind mir Gesamt-Bearbeitungen überhaupt nicht, einzelne Anregungen in geringer Zahl bekannt geworden. Dagegen liegen aus den Niederlanden sowohl in grundsätzlicher wie in räumlicher Hinsicht wichtige Äußerungen vor. Sie sind dort in erster Linie von der wirtschaftsgeographischen und völkerkundlichen Seite her entwickelt worden. Ungarn und Rumänien haben geopolitische Arbeiten von stärkster politischer Zweckbetonung geliefert, denen in Ungarn — durch den Grafen Teleki — ein nicht geringer Taterfolg beschieden war. Für das Entstehen des jugoslawischen Staates hatten die Arbeiten von Cvijic, für die des polnischen diejenigen von Römer eine beträchtliche Bedeutung gehabt. Eine sehr umfangreiche — wenn auch nicht unter geopolitischem Namen laufende — Literatur zur Frage der Wechselbeziehungen zwischen räumlicher Umwelt und politischen Lebensformen ist in der Sowjetunion entstanden. Sie unterliegt natürlich den Begrenzungen, die der historische Materialismus als beherrschende Weltanschauung erzwingt. Trotzdem enthält sie — nach den wenigen Proben, die mir zugänglich waren — manches, was auch im Rahmen anderer Gesamtauffassungen seinen Wert behält.
Sowohl im sowjetrussischen wie im amerikanischen Schrifttum tritt in neuester Zeit ein Bestandteil hervor, der auch in Deutschland im letzten Jahrzehnt an Wichtigkeit gewonnen hat und weiter gewinnen wird: jenes aus den verschiedensten Zweigen der Wissenschaft wie des Lebens stammende Ringen um die innere Raumgliederung größerer oder kleinerer Gebiete, das einen reichen Niederschlag in Schriften zur Raumgliederung, Raumordnung und Raumplanung gefunden hat. Dieses Schrifttum bezieht sich auf Räume der verschiedensten Größenordnung von Kreisen und Provinzen bis zu „Großräumen” und „Kontinenten”. Es ist zu beträchtlichen Teilen politisch-geographischen und geopolitischen Inhalts.
Daß staats- und wirtschaftswissenschaftliche, Völker- und rassenkundliche, soziologische, wehrwissenschaftliche und historische, nicht zuletzt allgemein-politische Werke aller Zeiten und Sprachen wichtige Äußerungen politisch-geographischen und geopolitischen Wesens enthalten, sei nochmals betont. Damit soll nicht versucht werden. Politische Geographie und Geopolitik gegenüber anderen Wissenschaften auszuweiten. Es soll nur eine Forderung an jeden gestellt werden, der hier arbeitet: nie zu vergessen, welche Fülle von Anregung für seine besonderen Fragen in anderen Bereichen von Wissenschaft und Leben zu finden ist: bei Caesar oder Tacitus wie bei Napoleon oder Gobineau; bei Aristoteles wie bei Morus und Macchiavelli; bei Herodot, Thukydides und Polybios nicht anders als bei Ranke, Burckhardt und Spengler; selbst — um weiteste Gegensätze zu nennen — bei Rousseau und bei Konfuzius.
Auszug aus: Albrecht Haushofer: Allgemeine Politische Geographie und Geopolitik, Erster Band, Vowinckel, Heidelberg 1951. S. 15-22. Die Schrift entstand zwischen 1941 und 1943. Ein Manuskriptdruck erfolgte 1944 in einer kleinen Auflage, die Erstveröffentlichung als Buch war 1951.