Der Titel der Limes 10/2020 ist programmatisch gemeint: L’Italia è il mare – Italien ist das Meer, es ist mit ihm identisch. Zwar hat das gegenwärtige Italien seine maritime Natur vergessen und ist (auch deshalb) zu einer unbedeutenden Macht geworden, doch wenn es sich seiner zentralen Position im Mittelmeer – seinem einstigen mare nostrum – erinnert, dann kann es wieder aufsteigen. Denn dem Mittelmeer kommt im neuen Weltkonflikt zwischen den USA und China eine Schlüsselrolle zu – und damit auch Italien. So läßt sich das Editorial von Licio Caracciolo knapp zusammenfassen.
Italien befindet sich in einer Identitätskrise. Es fühlt sich an den Rand gedrängt. Ihm fehlt eine Aufgabe, eine Mission. Für den patriotisch gesinnten Herausgeber der Limes, die sich ausdrücklich als italienische Zeitschrift für Geopolitik versteht, ist das Meer die Antwort auf die gegenwärtige italienische Identitätsfrage. Er beruft sich dazu auf den Historiker Federico Chabod (1901-1960), der die Maritimität Italiens als Bedingung für den Wiederaufstieg ansah. Ausgehend von der zentrale Lage des Landes im Mittelmeer ist dies in geopolitischer Betrachtung offenkundig. Denn wer das Zentrum eines Raumes besetzt, der hat ihn im eigenen und allgemeinen Interesse zu ordnen.
Das Mittelmeer ist in die Mitte der Welt gerückt. Es entspricht zwar nur einem Prozent der gesamten Wasseroberfläche der Welt, doch es ist ein strategischer Raum par excellence. Das Mittelmeer ist natürliche Barriere und zugleich Verbindungsmedium zwischen Europa, Afrika und dem Nahen Osten. Was für die USA die Karibik ist und für China das Südchinesische Meer, ist das Mittelmeer für Europa – der weiche Unterleib. Globale Bedeutung hat es als kürzeste Verbindung zwischen dem Atlantik und dem Indischen Ozean. Damit ist auch das Mittelmeer ein Schauplatz des Weltkonfliktes zwischen den USA und China. Und in Italien kreuzen sich die Ambitionen der beiden Supermächte: Die VI. Flotte der US-Navy hat ihr Hauptquartier in Neapel. Zugleich soll Italien der Endpunkt des von China ausgehenden Seesweges im Rahmen des Projektes einer neuen Seidenstraße werden. Es ist das erste westliche Land, welches der chinesischen Belt and Road Initiative (BRI) offiziell beigetreten ist.
Dario Fabbri plädiert in seinem Aufsatz über Italien als Halbinsel ohne Meer (Italia, penisola senza mare) ebenfalls dafür, dass sich das Land seiner strategischen Lage im Mittelmeer bewußt wird. Der Titel soll ausdrücken, dass die Tragödie Italiens darin besteht, eine Halbinsel zu sein, ohne an das Meer zu denken. Als Ursache dafür sieht er einen atavistischen Minderwertigkeitskomplex der Italiener gegenüber Mitteleuropa – von Fabbri unausgesprochen: gegenüber Deutschland. Als weiteren Grund für Italiens Abkehr vom Meer nennt er das vom amerikanischen Hegemon verhängte Verbot des strategischen Handelns seiner Vasallen.
Beides muss Italien überwinden und wieder zur Thalassokratie werden, zu einer auf Seefahrt gestützten Macht. Fabbri erinnert an das Alte Rom, dass eine Seesupermacht war und das Mittelmeer zu Recht als mare nostrum bezeichnen konnte. Auch die Seerepubliken Genua und Venedig verdankten ihre Unabhängigkeit und Größe der Hinwendung zum Meer. So ist es nicht überraschend, dass auch das faschistische Italien an diese Tradition anknüpfen wollte. Benito Mussolini verkündete bereits 1922: „Nur wenn wir das Mittelmeer zu unserem See machen, uns mit denen verbünden, die im Mittelmeer leben, und diejenigen vertreiben, die die Parasiten des Mittelmeers sind, werden wir durch diese harte Arbeit (…) wirklich eine große Periode der italienischen Geschichte einleiten.“
Nach einem kurzen Exkurs über die Bedeutung der Deutschamerikaner für den Aufbau der US-Marine am Ende des 19. Jahrhunderts und der Feststellung, dass die wichtigsten amerikanischen Admirale des Zweiten Weltkriegs aus dem Mittleren Westen stammten, zeigt Fabbri das größte Hindernis für die fehlende Seemacht des heutigen Italiens auf – die herrschende Klasse des nördlichen Italiens, die nie eine Leidenschaft für das Mittelmeer gehabt hat. Italiens Norden schaut ausschließlich in nördliche Richtung, nach Mitteleuropa. Dieser immerwährende Blick über die Alpen hindere die Italiener daran, zu begreifen, was in Übersee passiert, so Fabbri. Dies sei so, als würden die USA nur von Kanada träumen und ihre Vormachtstellung im Golf von Mexiko leugnen, von wo ein potentieller Feind über den Mississippi hinaufsteigen und direkt in ihr Herz stechen kann.
Das Mittelmeer ist jedoch in der Wahrnehmung der Italiener – besonders denen des Nordens – zu einem Passivposten des Landes geworden. Es bringt nur Unglück, von anlandenden Migranten bis hin zum steigenden Meeresspiegel. Sie glauben, dass die „trockenen“ Nationen im Norden besser leben, da sie frei von den Komplikationen des Meeres sind. Die Italiener verstehen nicht, dass gerade im Mittelmeer ihr geopolitisches Überleben auf dem Spiel steht, denn nur dort kann Italien seinen Einfluß vertiefen und Bedrohungen abwehren.
Italien muss sich daher wieder seines außergewöhnlichen strategischen Vorteils bewußt werden: Es existiert im Zentrum des Mittelmeers. Es überblickt beide Hälften des Meeres und kann sich ohne Anstrengung in jede Richtung bewegen. Die italienische Marine gehört nach wie vor zu den am besten ausgerüsteten in Europa und ist eine der wenigen auf der Welt, die über einen eigenen Flugzeugträger verfügen. Zu den Schwächen Italien gehört der mangelnde Einfluss auf Libyen, wo vor allem die Türkei aktiv ist, und eine unzureichende Infrastruktur in den italienischen Häfen.
Was nach Fabbris Ansicht jedoch vor allem notwendig ist, damit Italien die eigene Seefahrernatur wieder entdecken kann, ist das Aufgeben des Europäismus, der den Norden des Landes an Mitteleuropa bindet. Denn nur unter Einbeziehung des hochindustrialisierten italienischen Nordens kann das Land zu einer neuen Seemacht werden. Wenn dies nicht erfolgt, dann bleibt Italien eine angenehme Halbinsel, die so sehr vom Land träumte, dass sie das Meer verlor.
Weitere Aufsätze der Limes-Ausgaben befassen sich mit den Ambitionen der anderen Mächte im Mittelmeer und den weltweiten Aktivitäten der italienischen Marine. So stellt Federico Petroni fest, dass das Mittelmeer wieder auf dem Radar der USA ist und zitiert dazu US-Admiral James Stavridis, der im September 2020 sagte: „Das östliche Mittelmeer ersetzt das Südchinesische Meer und den Arabischen Golf als den herausragenden maritimen Hotspot der Welt.“ Das Mittelmeer ist für die Kriegslogistik der USA unersetzlich. Zudem können dort durch die Kontrolle der Engpässe Russland und die Türkei eingedämmt werden. Ebenso Deutschland, dass hier entmutigt werden soll, die Sicherheitsverantwortung für Krisen aus dem Süden zu übernehmen. Auch die chinesischen Infrastrukturinvestitionen im Mittelmeer geraten zunehmend in den Blick der Amerikaner. In dieser Situation sollte Italien nach Petronis Ansicht die Gelegenheit selbstbewußt nutzen, um seinen eigenen Einfluß innerhalb des amerikanischen Lagers aufzubauen.
Alles in allem erhält man mit dieser Limes-Ausgabe einen guten Einblick in Italiens geopolitische Optionen im Mittelmeerraum und die dort stattfindenden Konflikte.