Die Großmacht ist nicht ein mathematischer, sondern ein dynamischer, nicht ethnischer oder kultureller, sondern ein physiologischer Begriff. Die großen Maße dürfen nicht fehlen, ebensowenig wie eine hohe Kultur und eine gewisse Verfassungsharmonie, aber sie allein bilden keine Großmacht, wenn ihnen keine starke Seele eingeflößt wird. Die Großmacht ist im Grunde ein mit reichen Machtmitteln ausgerüsteter Wille, der sich in Ansprüchen und Einflüssen außerhalb der eigenen Wände spiegelt. Wir fügen hinzu: Wille zur Machtvergrößerung. Keine Großmacht ist eigentlich “saturiert”. Großmächte sind “Ausdehnungsstaaten” (Lamprecht). Deshalb sehen wir sie alle mit einem größeren oder kleineren Anhang von Einflußgebieten auftreten, die zum Begriff der Großmacht gehören wie der Schwanz zum Kometen.
Diese Bestimmungen geben uns die Lösung für gewisse tatsächliche Eigentümlichkeiten im geographischen Auftreten der Großmächte. Alle gehen von der gemäßigten Zone aus; denn nur dort bleibt der Nationalwille stark. Sie gehören beinahe ausnahmslos der nördlichen Erdkugel an; denn nur da verbürgt die reiche Verteilung der Länder eine abhärtende Reibung der Völker und eine starke natürliche Auslese. Das Urteil über die mögliche Großmacht Südamerikas erhält hier programmatische Bedeutung. Aus dem Wesen der Großmacht als starker Wille ergibt sich die Forderung nach einer günstigen Lage im Weltverkehr, ebenso wie die Forderung eines gesunden Klimas und eines großen Umfangs, die nur für Argentinien zuträfe.
Großmächte werden und vergehen mit dem Willen zur Größe
Dieselbe Bestimmung wirft Licht auf die Lebensgeschichte der Großmächte. Sie werden und vergehen eben mit dem Willen zur Größe. Es gibt für sie nicht nur einen körperlichen, sondern auch einen geistigen Tod: den Verzicht, das freiwillige Ausscheiden aus dem Wettkampf um das höchste Ziel, das plötzliche Aufgeben der Ansprüche, an der politischen und kulturellen Gestaltung der Welt teilzunehmen. Die Großmächte sterben wie die Naturvölker, aus Mangel an Willen zum Leben in seiner höchsten Steigerung. China ist hier das klassische Beispiel: es ist ein Riesenland in gemäßigter Zone, es steht an Menschenzahl über allen Völkern und an industriellen Möglichkeiten über allen Ländern, besitzt also alle Voraussetzungen zur Großmachtsstellung, aber es ist trotzdem zum Rang eines Kleinstaates herabgesunken, weil ihm das eine, was not ist, der Wille, fehlte. Wer Deutschland und Rußland nach dem Weltkriege betrachtet, wird vielleicht in ihrem Schicksal weitere – wenn auch nur vorübergehende – Beispiele für das gleich allgemeine Gesetz finden.
Hinsichtlich der Machtmittel hat man zwei entgegengesetzte Großmachtformen zu unterscheiden: die wirtschaftliche auf Grundlage des Geldes und die militärische auf Grundlage der Waffen. England und die Vereinigten Staaten haben am reinsten die erste, Rußland und Japan die zweite Form dargestellt; in Frankreich und Deutschland haben wir Übergangs- und Mischformen zwischen beiden gefunden. Da nun das Meer vorzüglich den Handel, das Festland die militärische Machtentfaltung begünstigt, so entspricht diesem Gegensatz im Wesen ein anderer in der äußeren Gestaltung, die dort maritim, hier kontinental ist. Wieder erscheinen England und Rußland als äußerste Gegensätze, Frankreich und Deutschland in Zwitterstellung. Aber hier scheinen die Vereinigten Staaten und Japan die Regel zu durchbrechen, da jene festländischen, dieses (mit Italien) der maritimen Form angehört; die Ausnahmen erklären sich bei Japan durch die abgesonderte geographische Lage, bei Italien durch die ihm zugefallenen Angriffsaufgaben beim ersten Auftreten, und werden anscheinend nun allmählich ausgeglichen in und nach dem Weltkrieg. Da ein Großhandel Stützpunkte draußen in der Welt erfordert, stellt sich endlich die Seegroßmacht regelmäßig dar als ein zersplittertes Reich, aus Mutterland und Kolonien bestehend, während die Festlandsmacht eine geschlossene Ausbreitung darbietet. Noch einmal zeigen England und Rußland die Reinheit der Formen, aber hierbei haben Frankreich und Deutschland sich entschieden auf die englische Seite gestellt, und auch die Vereinigten Staaten neigen jetzt dahin, während Japan sich der geschlossenen Form nähert, insofern als seine verschiedenen Landesteile um dasselbe Gewässer gesammelt liegen.
So kreuzen sich die verschiedenen Grundformen in den Gestalten einzelner Großmächte. Eine fortgesetzte Beobachtung zeigt, daß die Formen nicht konstant und kaum ebenbürtig sind. Da wir hiermit die Aufmerksamkeit vom gegenwärtigen Bild zu den Entwicklungslinien hinüberlenken, so dürfen wir uns nicht von Anfang an von den mannigfachen Mängeln und Gebrechen verwirren lassen, die unsere Einzeluntersuchungen im Leben jeder Großmacht aufgedeckt haben. Solche Unzulänglichkeiten brauchen an sich ihre Zukunftsaussicht ebensowenig zu verdunkeln, wie die Schwächen des großen Mannes die Laufbahn des Einzellebens verschließen; erst wenn sie im Vergleich mit denen der anderen eine gewisse Grenze überschreiten, ist Gefahr im Anzuge.
Es hat lange so ausgesehen, als ob die zersplitterte Form mit der See als Grundlage weniger lebenskräftig als die geschlossene Festlandsform sei; die Geschichte schien dabei erstere auszuscheiden, so wie es früher mit den Großmächten geschah, die von einer einzelnen Hochburg des Handels ausgingen (Karthago, Venedig), oder sich an Flußmündungen (Portugal, Holland) oder um ein Binnenmeer (Rom, Schweden) gebildet hatten. Dies hängt mit der stärkeren Betonung der Autarkie in der Gegenwart zusammen, (verhältnismäßig) wirtschaftliche Selbstgenügsamkeit als Bedingung der Großmachtstellung. Die Zukunft dürfte vermehrte Forderungen an die natürliche Tragkraft der Mutterländer stellen. Die feste geographische Grundlage schien so (mit Hilfe der Eisenbahnen) ihr Übergewicht über das losere Gewebe der Seeverbindungen zurückzugewinnen.
Auf den ersten Blick scheint nun der Weltkrieg diese Entwicklung völlig abgebrochen zu haben: oder hat er nicht vor allen anderen gerade England den Sieg geschenkt, der Seemacht in reinster Art? Das scheint unbestreitbar, und doch ist es ein Trugbild. Es ist wahr, daß die Seemacht (Blockade) ein starkes Werkzeug für den Sieger gewesen ist, aber das bestätigt nur unsere Diagnose, daß ein mehr autarkisches Deutschland größere Widerstandskraft gehabt hätte. Aber vor allem, das siegende England war nicht die europäische Insel, sondern die gewaltige Landmacht in allen Weltteilen, die gerade an dem festländischen Zusammenschluß zwischen ihren zerstreuten Teilen gearbeitet hat und sich beglückwünscht, daß es dies durch den Krieg so weit wie möglich erreicht hat. Das Zeugnis des Weltkrieges dürfte also nur scheinbar unseren früheren Beobachtungen widersprechen; nicht in dem Sinne, daß die Festlandsform durchaus überlegen ist, sondern daß das Ideal in der Verbindung beider liegt. Zum gleichen Ergebnis kommen wir beim Vergleich der wirtschaftlichen und militärischen Form. Scheinbar hat der Weltkrieg die wirtschaftliche bevorzugt, da sie den deutschen und russischen Militarismus überdauert hat; in Wirklichkeit hat er auch die führenden Wirtschaftsmächte militarisiert und damit die grundsätzliche Kluft überbrückt.
Aber wenn die künftigen Großmächte in harmonischerer Ausbildung vorgestellt werden müssen als die gegenwärtigen, so müssen sie gewiß auch mit einem größeren Maßstab gemessen werden. Der große Raum bringt aus sich keine Großmacht hervor, aber noch weniger kann sie ohne ihn gedacht werden. Das folgt unmittelbar aus der Ausdehnung des Schauplatzes über die ganze Welt. Staaten, die unter dem Gesichtswinkel Europas groß erscheinen, müssen angesichts des Erdballs zu Kleinstaaten zusammenschrumpfen. Offenbar hat die Großmachterscheinung des 19. Jahrh. in mancher Beziehung einer Übergangszeit angehört, die sich hinsichtlich der Masse und der Eigenart den größeren Anforderungen der planetarischen Lage noch nicht völlig angepaßt hatte.
Auszug aus: Karl Haushofer: Das Wesen der Großmacht, in: Karl Haushofer (Hrsg.): Die Großmächte vor und nach dem Weltkriege. Dreiundzwanzigste Auflage der Großmächte Rudolf Kjelléns, Zweite Auflage der Neubearbeitung, Leipzig und Berlin 1930.