Der Krieg ist, geographisch aufgefaßt, eine heftige, stoßweise und gewaltsame Bewegung großer Menschenmassen von einem Lande in ein anderes hinein. Politisch ist er das gewaltigste Mittel zur Weiterführung des im Frieden stockenden Staatenwachstums und zur Klärung verworrener Völkerverhältnisse, wobei die für den Frieden gültigen Grenzen mit allen daran geknüpften Verkehrsbeschränkungen für die Kriegführenden verschwinden von dem Augenblick der Kriegserklärung an, ihre beiderseitigen Gebiete in Eines verschmelzen und einen Kriegsschauplatz im weitesten Sinne bilden.
Gesellschaftlich zeigt er die männlichen Züge des Gesellschaftstriebes und des Herrscherwillens aufs höchste gesteigert, während dagegen der Friede das Familienleben begünstigt mit seinem Streben nach abgeschlossenen sicheren Verhältnissen und wunschloser Zufriedenheit, mit seiner Fesselung des Mannes an Weib und Nachkommenschaft, kurz mit seinem Vorwiegen des weiblichen konservativen Prinzips und des Geschlechtslebens.
Der erste Zweck des Krieges ist immer, in das Gebiet des Gegners einzudringen, daher Wege zur Grenze, Grenzfestungen, Magazine, Militärgrenzen, die das für die eine Seite erleichtern, für die andere erschweren sollen. Da aber, kraft der politischen und wirtschaftlichen Differenzierung nicht alle Teile eines Gebietes von gleichem Werte sind, strebt auch der Krieg nicht eine unterschiedslose Besetzung eines Landes an, sondern sucht sich der Hauptstadt, der Verkehrszentren, der Punkte von hervorragendem geschichtlichem Werte für das bekriegte Volk, der festen Plätze, der Verkehrswege, der reichsten Provinzen zu bemächtigen. Außerdem liegen aber in der Kulturstufe und in der politischen Entwicklung der Völker Unterschiede der Kriege, die zum Teil rein politisch-geographischer Natur sind. Den Krieg als ein Merkmal der niedersten Kulturstufe, vielleicht gar als den Anfang der Staatenbildung anzunehmen, hindert uns die geographische Erwägung, daß die ursprüngliche weite Zerstreuung der Völkchen sie fast außer Reibung hielt, wie denn bei den heutigen Eskimo aus demselben Grund Kriege kaum vorkommen.
Wir haben gesehen, wie verschieden die Schätzung des Bodens ist und wie weit damit die Ziele der Kriege auseinander gehen. Die niedrigste Form ist der Vernichtungskrieg, wo bei geringer Schätzung des Bodens die Ausrottung des gegnerischen Volkes zum einzigen Zweck wird; ein Teil davon wird getötet, ein Teil in die Sklaverei geführt, das Land bleibt wüst liegen oder fällt dem Sieger als eine Art Nebengewinn zu.
Eng verwandt damit sind die Raubkriege, wo das unterliegende Volk aller seiner beweglichen Güter beraubt wird, und die reinen Eroberungskriege, wo es außerdem Boden und Freiheit einbüßt; hier ist bereits als sicherstes Mittel zu dauernder Ausbeutung die Besitznahme des Bodens erkannt, die mit wachsender Schätzung des Wertes des Bodens als Motiv der Kriege immer deutlicher hervortritt, am einfachsten bei der Rückeroberung verlorenen Bodens.
Die meisten Kriege, von denen uns die Geschichte der letzten zwei Jahrtausende berichtet, waren Kriege um Boden, von den Kriegen der Römer gegen ihre Nachbarn, denen die Besetzung der errungenen Gebiete mit römischen Kolonisten folgte, die verpflichtet waren, ihn mit dem Pfluge zu sichern und mit dem Schwert zu verteidigen, bis zu den nationalen Kriegen des 19. Jahrhunderts, in denen Völker verlorene Gebiete zurückeroberten, ihre Länder abrundeten, sich aus schwächender Zersplitterung befreiten. Selbst der Brüderkrieg der Vereinigten Staaten von Amerika, der formell um die Sklaverei geführt wurde, hatte zum Hauptziel die Erhaltung der Einheitlichkeit des Staatsgebietes, und der Kampf der Italiener um Rom ging auf denselben Zweck hinaus.
Wirtschaftliche Kriege gehen ihrer Natur nach nie unmittelbar aus dem Vorkommnis hervor, an dem sie sich entzünden, sondern durch dasselbe wird eine alte Interessenspannung, die längst vorhanden war, nur ausgelöst: Nicht die Konfiskation des indischen Opiums hat den englisch-chinesischen „Opiumkrieg“ entzündet, sondern der Gegensatz des vordringenden Englands zu dem sich abschließenden China. Solche Kriege werden so lange wie möglich hinausgeschoben, bis sie sich gleichsam von selbst entzünden, und ihre Führung läßt sehr oft die Wucht vermissen, mit der in großen politischen Kriegen die Völker mit ihrer gesamten Kraft sich aufeinander stürzen. Da nur ein Teilinteresse auf dem Spiel steht, reicht oft ein halber oder Viertelserfolg zur Beilegung des Streites aus.
In dieser Beziehung kann man die wirtschaftlichen Kriege den Kolonialkriegen an die Seite stellen, die ebensowenig geeignet sind, die ganze Kraft und Leidenschaft eines Volkes zu entfesseln, oft nicht einmal die volle Teilnahme desselben auf sich ziehen oder festhalten können. Auch bei ihnen handelt es sich nicht um Sein oder Nichtsein, sondern um Gefahren oder Vorteile zweiten Ranges.
aus: Friedrich Ratzel: Politische Geographie, 3. Aufl., Berlin und München 1923, S. 65 f.
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