Zu allen Zeiten hat es Städte oder Länder gegeben, die sich in Gewerben, Handel und Schifffahrt vor allen anderen auszeichneten, aber eine Suprematie, wie die unserer Tage, hat die Welt noch nicht gesehen. Zu allen Zeiten haben Nationen und Mächte nach Weltherrschaft gestrebt, aber noch keine hat das Gebäude ihrer Macht auf so breiter Grundlage aufgeführt. Wie wichtig erscheint uns das Bestreben jener, die ihre Universalherrschaft bloß auf Waffengewalt gründen wollten, gegen den großen Versuch Englands, sein ganzes Territorium zu einer unermesslichen Manufaktur-, Handels- und Hafenstadt zu erheben, und so unter den Ländern und Reichen der Erde zu werden, was eine große Stadt dem flachen Lande gegenüber ist – der Inbegriff aller Gewerbe, Künste und Wissenschaften, allen großen Handels und Reichtums, aller Schifffahrt und Seemacht – eine Weltstadt, die alle Länder mit Manufakturwaren versorgt und sich dagegen an Rohstoffen und Agrikulturprodukten von jedem Lande liefern lässt, was seine Natur Brauchbares und Annehmbares bietet – eine Vorratskammer aller großen Kapitale – eine Bankhalterin aller Nationen, die über die Zirkulationsmittel der ganzen Welt verfügt und durch Anleihen und Rentenerwerb alle Völker der Erde sich zinsbar macht.
Seien wir indessen gerecht gegen diese Macht und ihr Streben. Nicht aufgehalten, sondern unermesslich gefördert in ihren Fortschritten ward die Welt durch England. Allen Nationen ist es Vorbild und Muster geworden – in der inneren und äußern Politik, wie in großartigen Erfindungen und Unternehmungen aller Art, in Vervollkommnung der Gewerbe und Transportmittel wie in Auffindung und Urbarmachung unkultivierter Länder, insbesondere in Ausbeutung der Naturreichtümer der heißen Zone und in Zivilisierung barbarischer oder in Barbarei zurückgefallener Völkerschaften. Wer weiß, wie weit die Welt noch zurückstände, hätte es kein England gegeben? Und hörte es auf zu sein, wer kann ermessen, wie weit die Menschheit zurückgeworfen würde? Freuen wir uns also der unermesslichen Fortschritte jener Nation, wünschen wir ihr Prosperität für alle Zeiten. Sollen wir aber darum auch wünschen, dass sie auf den Trümmern der übrigen Nationalitäten ein Universalreich gründe? Nur der bodenlose Kosmopolitismus oder kaufmännische Beschränktheit kann diese Frage bejahen. Wir haben die Folgen einer solchen Entnationalisierung in den vorangegangenen Kapiteln ausgeführt und gezeigt, dass die Kultur der Menschheit nur aus einer Gleichstellung vieler Nationen in Kultur, Reichtum und Macht hervorgehen könne – dass, wie England selbst aus einem barbarischen Zustand sich auf seine jetzige Höhe emporgeschwungen, anderen Nationen die gleiche Bahn offen stehe – und dass zur Zeit mehr als eine Nation berufen sei, nach dem höchsten Ziel der Kultur, des Reichtums und der Macht zu streben. Stellen wir nun hier summarisch die Staatsmaximen zusammen, vermittelst welcher England zu seiner gegenwärtigen Größe gelangt ist; sie lauten kurz gefasst so:
- die Einfuhr von produktiver Kraft der Einfuhr von Waren stets vorzuziehen;
- das Aufkommen der produktiven Kraft sorgfältig zu pflegen und zu schützen;
- nur Rohstoffe und Agrikulturprodukte einzuführen und nur Manufakturwaren auszuführen;
- den Überschuss an produktiver Kraft auf die Kolonisation und die Unterwerfung barbarischer Nationen zu verwenden;
- die Versorgung der Kolonien und unterworfener Länder mit Manufakturwaren dem Mutterlande ausschließlich vorzubehalten, dagegen aber denselben ihre Rohstoffe und besonders ihre Kolonialprodukte vorzugsweise abzunehmen;
- die Küstenfahrt, die Schifffahrt zwischen dem Mutterlande und den Kolonien ausschließlich zu besorgen, die Seefischerei durch Prämien zu pflegen und an der internationalen Schifffahrt den möglich größten Anteil zu erlangen;
- auf diese Weise eine Seesuprematie zu gründen und vermittelst derselben den auswärtigen Handel auszubreiten und den Kolonialbesitz fortwährend zu vergrößern;
- Freiheit im Kolonialhandel und in der Schifffahrt nur zuzugeben, insofern mehr zu gewinnen als zu verlieren, wechselseitige Schifffahrtsrechte erst dann zu bedingen, wenn der Vorteil auf englischer Seite, wenn fremde Nationen dadurch abgehalten werden konnten, Schifffahrtsbeschränkungen zu ihren eigenen Gunsten einzuführen;
- fremden independenten Nationen nur Konzessionen in Ansehung der Agrikulturprodukteneinfuhr zu machen, im Fall dagegen Konzessionen in Ansehung der Manufakturproduktenausfuhr zu erlangen wären;
- wo keine solche Konzessionen durch Vertrag zu erlangen, den Zweck durch Kontrebandhandel zu erreichen;
- Kriege zu führen und Allianzen zu schließen mit ausschließlicher Rücksicht auf das Manufaktur-, Handels-, Schifffahrts- und Kolonialinteresse; an Freunden und Feinden dadurch zu gewinnen; an diesen, indem man ihren Seehandel unterbricht, an jenen, indem man ihre Manufakturen durch Subsidien, die in der Form von englischen Manufakturwaren bezahlt werden, ruiniert.
Diese Maximen wurden in früheren Zeiten von allen Ministern und Parlamentsrednern unumwunden ausgesprochen. Unverhohlen erklärten die Minister Georgs I. 1721 bei Gelegenheit des Einfuhrverbots der ostindischen Fabrikate: Es sei klar, dass eine Nation nur reich und mächtig werden könne, indem sie Rohstoffe einführe und Manufakturwaren ausführe. Noch zu den Zeiten der Lords Chatham und North trug man keine Scheu, im offenen Parlament zu sagen: Man sollte nicht zugeben, dass in Nordamerika ein einziger Hufnagel fabriziert werde.
Erst mit Adam Smith kam noch eine neue zu den oben aufgezählten Staatsmaximen, nämlich die: die wahre Politik Englands durch die von Adam Smith erfundenen kosmopolitischen Redensarten und Argumente zu verdecken, um fremde Nationen abzuhalten, diese Politik nachzuahmen.
Es ist eine gemeine Klugheitsregel, dass man, auf den Gipfel der Größe gelangt, die Leiter, vermittelst welcher man ihn erklommen, hinter sich werfe, um anderen die Mittel zu benehmen, uns nachzuklimmen. Hierin liegt das Geheimnis der kosmopolitischen Lehre Adam Smiths und der kosmopolitischen Tendenzen seines großen Zeitgenossen William Pitt und aller seiner Nachfolger in der britischen Staatsverwaltung. Eine Nation, die durch Schutzmaßregeln und Schifffahrtsbeschränkungen ihre Manufakturkraft und ihre Schifffahrt so weit zur Ausbildung gebracht hat, dass keine andere Nation freie Konkurrenz mit ihr zu halten vermag, kann nichts Klügeres tun, als diese Leiter ihrer Größe wegzuwerfen, anderen Nationen die Vorteile der Handelsfreiheit zu predigen und sich selbst reumütig anzuklagen, sie sei bisher auf der Bahn des Irrtums gewandelt und jetzt erst zur Erkenntnis der Wahrheit gelangt.
William Pitt war der erste englische Staatsmann, der zur Einsicht gelangte, wozu die kosmopolitische Theorie Adam Smiths eigentlich zu gebrauchen sei, und nicht umsonst hat er stets ein Exemplar des Werkes über den Nationalreichtum bei sich getragen. Seine Rede vom Jahre 1786, weder dem Parlament noch der Nation, sondern offenbar den von aller Erfahrung und politischer Einsicht entblößten Staatsmännern Frankreichs zu Gehör gesprochen und einzig darauf berechnet, die letzteren für den Edenvertrag zu bearbeiten, ist ein Muster Smithscher Dialektik. Von der Natur, sagte er, sei Frankreich auf die Agrikultur und den Weinbau, wie England auf die Manufakturproduktion angewiesen, diese Nationen verhielten sich zueinander wie zwei große Kaufleute, die in verschiedenen Zweigen Handel trieben und die sich wechselseitig durch Warentausch bereicherten;2 – kein Wort von der alten Maxime Englands, dass eine Nation im auswärtigen Handel nur durch den Tausch von Manufakturprodukten gegen Agrikulturprodukte und Rohstoffe zum höchsten Grad von Reichtum und Macht gelangen könne. Diese Maxime war und blieb von jetzt an ein englisches Staatsarcanum; sie ward nie wieder öffentlich ausgesprochen, aber um so strenger befolgt.
Aus: Friedrich List: Das nationale System der politischen Ökonomie, Stuttgart/Tübingen 1841. Die Überschrift des Textes ist einer späteren Neuausgabe entnommen: Friedrich List: Kräfte und Mächte, Ebenhausen bei München 1942, S. 200. Der Untertitel wurde vom Herausgeber hinzugefügt.